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Buchenwald. Ein Audiowalk

An der Gedenkstätte Buchenwald gibt es ein neues Angebot für Besucher:innen: Den Audiowalk. Er ist die Alternative zum Audioguide, dem standardmäßigen Rundgang über das Gelände. Ich habe mir den Audiowalk angehört:

Aus meiner Sicht lassen sich im Audiowalk zwei zentrale Perspektiven ausmachen, die ihn aus- und besonders machen. Erstens wäre da der Aktualitätsbezug beziehungsweise der Versuch, durch Vergleiche und das „zu-Wort-kommen-Lassen“ von Menschen mit „aktueller“ Diskriminierungserfahrung die NS- und Ortsgeschichte heute bedeutsam zu machen. Zweitens gefällt mir sehr, wie die Methoden und die „Machart“ des Audiowalks transparent dargestellt werden.

Zu Beginn wird man da abgeholt, wo man steht, nämlich auf dem Parkplatz. Man merkt: Im besten Fall sollte nicht zu viel Zeit vergehen zwischen Ankunft und Beginn des Walks. Nach einigen Sätzen zu den Häusern vor den Augen der Hörer:innen wird erstmals angedeutet, wie der Audiowalk entstanden ist. 14 Menschen waren beteiligt, manche mit Flucht- und Rassismuserfahrung, manche ohne. Was dabei auffällt ist der Stil, denn es wird nicht versucht, diese Informationen subtil einzuarbeiten, sondern mit der Frage „Wer spricht hier eigentlich?“ transparent und eindeutig abgebildet. Ich finde das gut, denn mit dieser sprachlichen Klarheit entsteht eine Abgrenzung von den immer wiederkehrenden Einblicken in den Entstehungsprozess des Audiowalks und dem inhaltlichen Produkt dieses Prozesses.

Schnell wird dann offengelegt, was dieser Audiowalk eigentlich ist, was er liefern kann. Man könne nämlich „die Sachen nicht so herstellen, wie es in Wirklichkeit war“, sondern müsse sich über Zeitzeugenberichte und Quellen annähern, an welche man wiederum aus der Gegenwart Fragen stelle. Und so werden – ganz nebenbei, so scheint es – die Methoden offengelegt und gleichzeitig ein geschichtswissenschaftlicher Standpunkt erklärt. Lange Zeit gab es nämlich die Vorstellung einer historischen Wirklichkeit, die objektiv und vollkommen darstellbar sei, einfach gesagt: „sagen, wie es eigentlich gewesen ist“ (Leopold von Ranke). Die Erkenntnis, dass man einer Vielzahl von Umständen (nicht zuletzt seinen eigenen Perspektiven, Meinungen, Erkenntnisinteressen) unterworfen ist, die verhindern, dass die Wirklichkeit so hergestellt wird „wie sie war“, ist zwar nicht ganz neu, in der breiten Bevölkerung jedoch (noch) nicht verbreitet. Der Audiowalk begegnet dieser Problematik mit radikaler Transparenz (Entstehungsprozess etc. s.o.).

Als nächstes wird man mitgenommen zu den Treffen der 14 Personen, ein Thema wird herausgepickt: Vergleiche. Nancy aus dem Libanon findet das Vergleichen gut, wenn es nicht genutzt wird, um zu relativieren, sondern um zu verstehen, vielleicht, um eigene Erfahrungen zu verarbeiten. Der Audiowalk widmet diesem Thema mehrere Minuten und es gibt einige Punkte, die mir explizit beim Hören bewusst wurden:

Wir bewegen uns mit unserer Art des Gedenkens meist nicht aus unserer Komfortzone. „Das war wirklich schlimm damals.“ „Die AfD ist schlimm.“ „Nie wieder!“ „Wehret den Anfängen.“ Das sind (zugegeben überspitzt formuliert) bequeme Positionen, die auch durch einen Besuch in der Gedenkstätte nicht ungemütlich werden. Natürlich fühle ich angesichts dieses Ortes Trauer oder Unbehagen, aber dieses Unbehagen ist nicht annähernd so groß, wie das, was ich empfinde, wenn Ivan Ivanji (Auschwitz- und Buchenwaldüberlebender; im Audiowalk zu hören) über ertrinkende Kinder spricht. Kinder, die mit dem gleichen Vertrauen „ein Boot besteigen“, mit dem „ein jüdisches Kind, Hand in Hand mit seinen Eltern in Auschwitz in die Gaskammer gegangen“ ist. Dieses Unrecht passiert nämlich heute, jetzt gerade und auch ich trage Verantwortung dafür. Ganz schön unbequem.

Was bedeutet es für Deutschland, wenn die Regierung Menschen ertrinken lässt? Was bedeutet es für Europa, wenn Polizist:innen Menschen zurück über die Grenze prügeln oder aus rassistischen Motiven ermorden? Was bedeutet all das für unsere Demokratie und die Lehren, die wir aus Buchenwald ziehen sollen? Das Erinnern an den Nationalsozialismus und die Shoah gehört zur Erzählung, ist Legitimation des deutschen Staats und Teil „unserer“ Identität. Die heutigen Verbrechen nicht. Sie greifen diese Identität an und stellen unsere Art zu leben in Frage. Vergleiche stoßen uns aus der Komfortzone und das ist sicherlich der größte Erfolg des Audiowalks.

Dennoch können NS-Vergleiche meines Erachtens problematisch sein – natürlich sind Vergleiche unterschiedlicher historischer Ereignisse zulässig, aber man sollte dabei unbedingt fragen, was mit diesen Vergleichen bezweckt wird. So ist es beispielsweise legitim, einige Aspekte des russischen Überfalls auf die Ukraine mit Hitlers Angriffskriegen zu vergleichen. Es muss dann allerdings gefragt werden, ob man mit einem derartigen Vergleich den Nationalsozialismus relativiert oder „die Deutschen“ rückwirkend entlastet, auch wenn auf analytischer Ebene keine Gleichsetzung vorliegt. Grundsätzlich sollte gelten: Ein historisch korrekter Vergleich, der keine Gleichsetzung ist, ist „erlaubt“. Man sollte dabei aber versuchen, über die tiefer liegenden Aspekte derartiger Vergleiche Rechenschaft abzulegen, vor allem die eigene – vielleicht unbewusste – Motivation zu hinterfragen. NS-Vergleiche sind immer eine Gratwanderung und dennoch dürfen wir nicht auf sie verzichten, weil sie das wichtigste Mittel sind, ein so oft wiederholtes „Nie wieder!“ mit Leben zu füllen.

Indem im Audiowalk Menschen zu Wort kommen, die selbst Diskriminierung und Verfolgung erfahren haben und täglich in Deutschland erfahren, wird diese Perspektive auf die einzig richtige Art angegangen. Denn während Vergleiche wie oben für mich Anlass bieten, ein wenig nachzudenken, ist es für andere die Chance, Erlebtes zu verarbeiten (wie es Nancy angesprochen hat). Während ich unbehelligt mein Leben leben kann, wird Lina aus Syrien beim Besuch der Gedenkstätte rassistisch beleidigt. Dieser Blickwinkel gehört meiner Meinung nach unbedingt an einen Ort wie Buchenwald und es tat richtig gut, ihn in Form des Audiowalks vertreten zu sehen bzw. zu hören.

Der Audiowalk verfolgt oft ein bestimmtes wiederkehrendes Muster. Meist geht man an einen Ort und passend dazu wird über die konkrete Ortsgeschichte geredet. Daraus abgeleitet wird eine Frage gestellt, die mal mit der Stimme eines Überlebenden 1945, mal mit der Stimme eines Überlebenden heute und mal mit der Stimme einer der mitwirkenden Personen „beantwortet“ oder vertieft wird. Diese Reihenfolge finde ich gut gewählt, man erfährt etwas über den Ort, den man vor Augen hat, wird mit einer dazu passenden Frage und schließlich einer möglichen Antwort konfrontiert. Jedes Mal ein kleiner Gedankenspaziergang, bei dem man jedoch stets fest an der unsichtbaren Hand des Audiowalks geht. Es wird dabei zwar wenig Platz für eigenen Gedankentransfer und für eigene Ansätze gelassen, die Gedankenwege werden vorgegeben, das empfand ich allerdings überhaupt nicht als störend, weil mir diese vorgegebenen Wege ganz gut gefielen. Wenn der Audiowalk mehr Platz ließe, dann wäre er vielmehr wie der Standard-Audioguide, nämlich trocken und auf Wissensvermittlung beschränkt.

Mir gefällt außerdem, dass „Gedenken“ als dynamischer und unvollständiger Prozess dargestellt wird. Es wird nämlich darauf hingewiesen, dass es immer noch Verfolgtengruppen gibt, die noch nicht in Form eines Denkmals auf dem ehemaligen Lagergelände gewürdigt sind. Denkmäler und Repräsentation sind oft Ergebnis von Kampf, Lobbyarbeit, Aushandlungen, Zugeständnissen und Diskriminierung, was auch im Audiowalk angesprochen wird.

Die Vielschichtigkeit des Ortes ist im Audiowalk ziemlich authentisch abgebildet. Es wird einmal über die KZ-Zeit, dann über die Zeit nach der Befreiung, schließlich über heute geredet, sodass man eher ein Gefühl für den Ort und seine Geschichte entwickeln kann. Das sowjetische Speziallager wurde wohl bewusst außen vorgelassen, was ich richtig finde, da sich aus meiner Sicht kein Mehrwert für die Hörer:innen ergäbe (innerhalb dieses Formats!).

Mein großer Kritikpunkt sind die Soundeffekte. Wenn man das eingefügte Vogelzwitschern oder die Gehgeräusche nur unterbewusst wahrnimmt, erfüllen sie ihren Zweck und die Stimmung der Worte wird unterstützt. Aber es verhält sich dabei wie bei einem Basslauf in einem Lied: Hat man ihn einmal herausgehört, kann man nicht mehr zurück zum ursprünglichen Hörerlebnis, wo er nur unterschwellig im Hintergrund „herumbasst“, sondern hört ihn nun im Vordergrund als eigenständiges Instrument, losgelöst vom Lied. Die Effekte wirkten regelrecht befremdlich, nachdem ich einmal darauf geachtet hatte und ich konnte einfach nicht mehr weghören. Tschilp Tschilp.

Auf inhaltlicher Ebene fand ich es aber problematischer, wie Soundeffekte an anderer Stelle eingesetzt wurden. So sollte ich mal darauf achten, wie der Zaun im Wind pfeift oder mal hören, wie das Wasser in der Kanalisation rauscht (was es trotz starker Regenfälle nicht tat). Dieses Pathos war störend und irgendwie unangebracht – als müsste man einen solchen Ort noch inszenieren. Andererseits weiß ich, wie schwierig es sein kann, den Ort auf einer Gefühlsebene verständlich beziehungsweise die Geschehnisse/Zustände begreifbar zu machen und dabei hilft vielen anderen dieser Einsatz von Geräuschen vielleicht. Dass das Buchenwaldlied gespielt wurde, fand ich beispielsweise sehr bewegend (auch wenn das eher als Zeitdokument denn als Geräuschinszenierung zu verstehen ist).

Auf Geräusche geht der Audiowalk ebenfalls ein. Die Stille der Gedenkstätte wird der Lautstärke des Konzentrationslagers gegenübergestellt, was für mich persönlich ein überraschend eindrucksvolles Mittel war, mir die Situation vorstellen zu können. Dieser kleine Hinweis rief bei mir eine Reihe von Bildern hervor: von den vielen Baracken, vor denen Menschen stehen und sich in kleinen Gruppen unterhalten oder von den Reihen, die sich Richtung Appellplatz bewegen. Gerade von der Stelle am Waldrand, das Lagergelände im Blick, war diese Vorstellung einfach. Solche Erfahrungen, in denen ich tatsächlich filmreife Bilder im Kopf hatte, hatte ich bisher kaum und ich bin mir ehrlich gesagt nicht sicher, ob ich sie gut finden soll. Wenn ich Psychologe oder so wäre, könnte ich jetzt über die verschiedenen Arten von Imaginationen schreiben, aber da ich nun einmal ein einfacher Freiwilliger bin, kann ich nur sagen, dass ich es irgendwie unangenehm und respektlos fand, diese Bilder vor meinem inneren Auge ablaufen zu sehen, gleichzeitig aber auch beeindruckend, weil die Bilder (wie gesagt) so deutlich waren.

Was ich mit Sicherheit gut finde, ist der Audiowalk. Es gelingt ihm, die Geschichte Buchenwalds heute bedeutsam zu machen und er schafft elegant Vergleiche und Andockstellen, indem viele verschiedene Menschen zu Wort kommen. Ihre Perspektiven empfinde ich als extrem wertvoll und sonst zu häufig unterrepräsentiert.

Der Audiowalk verfolgt eine sehr persönliche und deshalb „empathische“ Linie, ist deswegen aber nicht weniger wissenschaftlich. Gerade im Gegensatz zum herkömmlichen Audioguide werden Entstehung und Methoden offengelegt. Ob der Audiowalk geeignet ist, Menschen, die das erste Mal in der Gedenkstätte sind, einen guten Überblick zu verschaffen, vermag ich nicht zu sagen, aber für mich war er richtig gut und hilfreich und ich weiß, dass er vielen Menschen einen neuen Blickwinkel verschaffen könnte, die diesen bitter nötig haben. 

Hanno

 

https://guidemate.com/guide/Buchenwald-Ein-Audiowalk-6184ead490d7d265b049e8c8?selectedGuideLocale=de