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Sophia: Mein Jahr Buchenwald.

Ein Jahr Buchenwald. Ein Jahr Historie. Ein Jahr zahlreicher Erfahrungen, Ereignisse. Ein Jahr des Lernens. Und ein Jahr des Erkennens. Stéphane Hessel, ehemaliger Häftling im KZ Buchenwald, sagte einmal: „Es gibt kulturelle Unterschiede, aber keine zivilisatorischen. Wenn wir in Gesellschaften leben, dann bedeutet es, dass jedes Individuum dieselben fundamentalen Rechte hat. Sie bedeuten zugleich, dass man miteinander leben kann, dass man sich gegenseitig respektiert, dass man Verantwortung für den anderen hat – das ist Zivilisation.“ – Ein Zitat, das mir im Kopf geblieben ist, das ich angesichts seines Kontextes sehr bezeichnend für die Erfahrungen des Wortschöpfers finde.

Mit diesen Worten begann ich meinen ersten eigenen Artikel für diesen Blog. Ich finde den Vergleich spannend – meine Sicht zu Beginn des Freiwilligenjahres und nun zu Ende desselben.

Das Zitat Stéphane Hessels hat mich tatsächlich seit jeher begleitet. In einigen meiner Texte, auch abseits des Blogs, tauchte es hier und da auf; als hölzerner Klotz aus der Verschwindenden Wand steht es bei mir zu Hause, sodass ich es jeden Tag sehe; es ist eines der Kernzitate, das in meinem Rundgang Erwähnung findet. Es drückt ja auch etwas Fundamentales aus: Menschen können sich in Kultur, Herkunft, Glaube, Gesinnung unterscheiden, jedoch nie in ihrer Eigenschaft, Mensch zu sein. Wir sind alles Menschen, ganz egal, welchen Hintergrund wir haben.

„Ein Jahr Buchenwald“. Ein Freiwilligenjahr, das jetzt zu Ende geht. Ich bin als Abiturientin ohne Plan und feste Perspektive in die Gedenkstätte gekommen. Nach einem Jahr gehe ich nun als angehende Studentin heraus. Ganz in die Richtung Geschichte hat es mich nicht getrieben, das FSJ hat mich jedoch anderweitig inspiriert: Die Arbeit in der Restaurierungswerkstatt, die den Hauptteil meines Jahres geprägt hat, hat mich auf das Feld der Restaurierung gebracht. Zwar geht es für mich nicht in die archäologische Richtung wie in der Gedenkstätte, sondern in die Gemälderestaurierung, das FSJ war aber wesentlich für diesen Entschluss.

„Ein Jahr Historie“. Wenn man in einem FSJ irgendwo sehr viel in relativ kurzer Zeit lernen will, dann wohl in Buchenwald. Wir Freiwilligen haben uns zu kleinen Historikerinnen entwickelt, zumindest insofern, als dass wir uns nun recht gut nicht nur mit der Geschichte des KZ auskennen, sondern auch Bezüge zu heute finden, Zusammenhänge erkennen, Entwicklungen durchschauen können. Allein unsere Blogartikel sind gewissermaßen Zeugnis davon, wie intensiv wir uns während dieses Jahres mit der Historie Buchenwalds auseinandergesetzt haben.

„Ein Jahr zahlreicher Erfahrungen, Ereignisse“. Das Freiwilligenjahr in Buchenwald brachte neben historischer Bildung natürlich auch den sozialen Aspekt mit sich. So viele neue Menschen, Kolleg:innen, Mitfreiwillige, kleine und große Dramen, ernste Themen, ausgelassene Stimmung; Freundschaft, Vertrautheit. Im Großen und Ganzen viele neue Eindrücke und Erfahrungen, die man wohl kaum anderswo so geballt macht. Intensiv haben wir uns untereinander ausgetauscht, haben Spaziergänge gemacht – zum Mahnmal, den Sonnenaufgang zu beobachten oder im Nebel gefangen zu sein, nicht zuletzt den Schnee im Winter zu genießen, der den Buchenwald in etwas so abstrus Wunderbares und Harmloses verwandelte. Teilhaben durften wir an Gedenktagen, konnten diese sogar aktiv mitgestalten, schrieben Artikel darüber. Ich durfte zur Jugendbegegnung nach Berlin fahren, so viel Wichtiges für mich und meine Arbeit an der Gedenkstätte, aber auch für die Zukunft mitnehmen. Am Befreiungstag war es uns sogar möglich, den Bundespräsidenten in Weimar und Buchenwald zu Gast zu haben. Leider fehlte der Austausch mit Zeitzeug:innen doch sehr – ich glaube, dies hat dem Freiwilligendienst an der Gedenkstätte ein zentrales Ereignis genommen. Gegen die Pandemiesituation kam der Wunsch jedoch nicht an (zumindest Überlebende des Speziallagers Nr. 2 konnten wir in Buchenwald begrüßen).

„Und ein Jahr des Erkennens“. Buchenwald hat mich vieles neu erkennen, aus einem anderen Blickwinkel betrachten lassen. Ich glaube schon, dass sich meine Sichtweise auf die Dinge und die Welt verändert hat – zum Positiven. Ich habe das Gefühl, nun viel bewusster durch den Tag zu gehen, kritischer Politik und Gesellschaft zu beäugen und mir mehr Gedanken um Entwicklungen und Tendenzen in unserem Land zu machen. Ich bin mir bewusst über Schwachstellen, Verbesserungsbedarf und Lücken, die unsere Welt des Gedenkens, allgemein des Umgangs mit unserer Geschichte heute noch prägen. So ist es mir wichtig, auch nach dem Freiwilligendienst die Problematik nicht aus den Augen zu verlieren und, soweit möglich, meinen Teil beizutragen. Dafür bin ich sehr dankbar, auch wenn es sicherlich nichts mehr als ein „Nebeneffekt“ dieses Freiwilligenjahres ist.

Für diesen letzten Artikel, den ich allein schreibe, habe ich versucht, mich zu erinnern – an meine Gedanken von vor einem Jahr, meine Sorgen, Wünsche und Hoffnungen. Meinen ersten Artikel habe ich gelesen und zu meiner Freude festgestellt, dass ich doch alles geschafft habe, was ich mir vorgenommen habe: Die Frage nach dem „Danach“ hat sich geklärt („Ich habe noch keine genaue Vorstellung davon, was mich im kommenden Jahr erwartet – wer weiß, vielleicht ergibt sich eine Antwort auf diese Frage nach dem „Danach“ auch im Laufe dieses Blog-Projekts […].“). Ich habe die Arbeitswelt kennengelernt und mich persönlichen Herausforderungen gestellt, mich hier und da überwunden und durchaus neue Seiten an mir entdeckt („Ich will über mich hinauswachsen, Neues sehen, ein anderes Leben kennenlernen abseits von Schule.“). 

Pandemisch bedingt waren allzu viele Rundgänge nicht möglich für mich, erproben und austesten konnte ich mich aber doch noch („Im kommenden Frühjahr werde ich hoffentlich meine ersten eigenen Rundgänge auf dem Gelände leiten.“). Ich würde behaupten, dass ich in vielem selbstständiger, vor allem aber selbstbewusster geworden bin. Ich hätte nicht gedacht, dass ich die Eigenorganisation, die dieses FSJ erfordert, so einfach hinbekomme. Dass ich vor fremden Menschen stehe und frei über den Ort erzähle. Dass ich allein nach Berlin fahre und dort mit völlig neuen Eindrücken und Menschen umgehen und mich an diese als eine unglaublich wichtige und schöne Zeit erinnern kann. Für viele sicherlich selbstverständlich, für mich aber eine immense Steigerung („Selbstständiger, selbstverantwortlicher werden, neue Perspektiven und Möglichkeiten entdecken.“). Ich bin auf so vieles stolz, in vieler Weise auch überrascht von mir; ich könnte vermutlich gar nicht alles in Worte fassen („Wer weiß, wie sich alles entwickelt, worauf ich stolz sein werde, was ich für mich gewonnen habe.“).

„Alles, was ich bis jetzt weiß, ist, dass dieses FSJ mich zu etwas bringen wird, egal in welche Richtung dies führt“. Dem sei nichts hinzuzufügen, als dass das Freiwilligenjahr in Buchenwald mich tatsächlich zu etwas gebracht hat. Nicht nur zu etwas, sondern zu vielem. Jetzt verlasse ich die Gedenkstätte mit einem lachenden und einem weinenden Auge: Tagtäglich habe ich mich mit der Geschichte Buchenwalds konfrontieren lassen, habe mich durch Führungskonzeption und Blogprojekt intensiv mit diesem Ort auseinandergesetzt, konnte mich im Schreiben ausleben, meine Arbeit mit Kunst und Musik verbinden, habe über Schicksale gelesen, Bilder und Filmaufnahmen gesehen, die mir im Kopf geblieben sind. Ebenso wie dieses Zitat: „Es gibt kulturelle Unterschiede, aber keine zivilisatorischen“, ein Grundsatz unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens.

Ein Jahr Buchenwald – Meine Antwort damals auf die Pflicht, uns für dieses gesellschaftliche, friedliche Zusammenleben, die „Zivilisation“, und den Schutz unserer Demokratie zu engagieren. Meine Antwort heute auf den Willen, mich dafür einzusetzen und die Problematik nicht aus den Augen zu verlieren, auch wenn es mich nun beruflich in andere Richtungen treibt.

 Sophia 

 

Sophia vor dem ehemaligen Krematorium
auf dem Appellplatz von Buchenwald