Direkt zum Hauptbereich

Franka: Ein FSJ an der Gedenkstätte Buchenwald
- Abschiede und was davon bleibt

 

Der Goetheplatz, der Goethepark, der Wielandplatz, die Schillerstraße, die Herderkirche, der Goethebrunnen. Die Liste geht noch lange weiter. Viele der Straßen, Parks, Plätze, Gebäude und Denkmäler in Weimar haben einen engen Bezug zur Zeit der Klassik, sind nach ihren Helden und größten Denkern benannt. Um Goethe und Schiller kommt man in Weimar einfach nicht herum. 
 
Aber nicht nur die beiden Klassiker leihen ihre Namen zahlreichen Orten und haben in der Stadt ihre Spuren hinterlassen. Auch Buchenwald-Bezüge findet man in ganz Weimar. Die Namen der Menschen, deren Leben vom Konzentrationslager geprägt wurden oder sogar dort endeten, sind in der Stadt präsent.
 
So laufe ich jeden Morgen die Rudolf-Breitscheid-Straße entlang. Rudolf Breitscheid war ein sozialdemokratischer Politiker, der als „Sonderhäftling“ nach Buchenwald kam und dort beim Luftangriff auf das Lager 1944 starb. Nur einen Kilometer weiter trifft man auf die Paul-Schneider-Straße. Als oppositioneller evangelischer Pfarrer wurde Paul Schneider in Buchenwald inhaftiert. Nach monatelanger Folter im Lagergefängnis wurde er schließlich mit einer Giftspritze ermordet.
 
Der Stéphane-Hessel-Platz, der Buchenwaldplatz, der Jorge-Semprún-Platz, die Carl-Gärtig-Straße. In Weimar stößt man auf viele solcher Namen. Es sind aber nicht nur Straßen und Plätze, die bei mir automatisch eine Assoziation zu Buchenwald auslösen. Fährt ein Bus nach Berlstedt an mir vorbei, oder lese ich Ortsnamen wie Ohrdruf, Tonndorf und Sömmerda, weiß ich, dass überall dort Außenlager des KZ Buchenwald angelegt waren – Lager mitten in der deutschen Bevölkerung, in denen viele Menschen starben. Nach dem FSJ möchte ich vielleicht in Leipzig oder in Jena studieren – ebenfalls zwei Städte, in denen Häftlinge des KZ Buchenwald Zwangsarbeit leisten mussten.

All diese Straßen, diese Orte, all diese Namen – sie wären früher an mir vorbeigegangen, ich hätte nicht zweimal über sie nachgedacht. Nach einem Jahr Freiwilligendienst in Buchenwald sehe ich auf einmal Verbindungen überall. Verbindungen zum Konzentrationslager Buchenwald, zur Vergangenheit des Nationalsozialismus. Erinnerungen an die Geschichte finden sich nicht nur in Gedenkstätten und Museum, sondern überall, in der Stadt, in Straßennamen, in Orten, in Buslinien. Man muss nur den Blick dafür öffnen.

Das hat das FSJ bei mir geschafft. Ein Jahr habe ich an der Gedenkstätte Buchenwald gearbeitet und viele in meinem Umfeld stellen nun die Frage, ich selbst ganz besonders, was davon für mich bleibt. Meiner eigenen Antwort möchte ich hier etwas näherkommen. In meinem allerersten Artikel schrieb ich davon, dass mir in der 12. Klasse noch nicht einmal die Namen der Vernichtungslager Majdanek, Sobibor usw. ein Begriff waren. Und ich zwar wusste, dass Buchenwald ein nationalsozialistisches Konzentrationslager war, viel mehr aber auch nicht. Es ist seltsam, jetzt an diese Zeit zurückzudenken. Jetzt, wo diese Begriffe und deren Geschichte ein Jahr Alltag für mich waren.

Der Wissenszuwachs, den ich mir in den letzten Monaten angeeignet habe, ist enorm. Dass ich in einem ganz speziellen, unheimlich wichtigen Themengebiet ein (kleiner) Experte geworden bin, ist für mich ein großer Erfolg. Dass ich sogar Führungen über das Gelände der Gedenkstätte Buchenwald geben kann und damit etwas von meinem Wissen weitergebe, ein noch größerer. Menschen zu erreichen, in ihnen vielleicht Interesse für das Thema anzulegen und sie zu sensibilisieren für den Ort Buchenwald ist natürlich bei jedem Rundgang das Ziel. Erreicht habe ich das aber zuallererst bei mir selbst.
 
An der Gedenkstätte sprechen wir oft davon, dass es essentiell ist, ein kritisches Geschichtsbewusstsein aufzubauen. Bei einem zweistündigen Rundgang durch eine Gedenkstätte und ein paar Stunden Geschichtsunterricht in der Woche können dafür sicher nur die Grundlagen gelegt werden. Das FSJ dagegen hat mein Geschichtsbewusstsein ausgebildet und verfestigt, mein historisches Urteilsvermögen geschärft. Und genau das war ja am Anfang mein Ziel – nicht nur die Geschichte Buchenwalds, sondern die nationalsozialistische Vergangenheit, die jüngste Geschichte Deutschlands besser zu verstehen. Letztendlich konnte ich an der Gedenkstätte Buchenwald dieses Land und seine Geschichte, seine Verbrechen, die Taten unserer Vorfahren wirklich durchdringen und dabei auch mich, als Teil dieses Landes, besser kennenlernen. Bis heute ist Deutschland und sind auch wir tief mit der Vergangenheit des Nationalsozialismus verbunden.

Überall – nicht nur in Weimar – begegnen uns Relikte, Erinnerungsstücke, Hinweise auf diese Zeit. Ob es nun der moderne Supermarkt ist, an dessen Stelle früher ein jüdisches Kaufhaus stand, die Synagoge, die nicht mehr existiert oder die Straße, die nach einem Widerstandskämpfer oder Konzentrationslager-Häftling benannt ist. Gebäude, ganze Städte, Menschen, Familien und vor allem unsere heutige Politik und freiheitlich-demokratische Grundordnung – die Vergangenheit, die sie in sich tragen, ist der Nationalsozialismus. In fast allen politischen Entscheidungen, zumindest idealerweise, fließt das Wissen um das Verbrechen des Holocausts, das von deutscher Seite begangen wurde, mit ein.

Kritisches Geschichtsbewusstsein – dass bedeutet nicht nur, Entscheidungen der Politik unter historischen Gesichtspunkten einordnen und bewerten zu können, sondern zum Beispiel auch, Narrative der AfD zu durchschauen, NS-Vergleiche und Relativierungen entkräften zu können, den Ursprung aktueller Entwicklungen in der Vergangenheit zu finden. Den Blick für solche Dinge zu weiten, ist, denke ich, für die eigene Persönlichkeitsentwicklung ebenso wichtig wie für die gesellschaftliche Teilhabe und die Rolle, die jeder Bürger und jede Bürgerin in Politik und Gesellschaft einnimmt.

Natürlich war das Freiwilligenjahr in Buchenwald aber noch viel mehr. Es war das erste Mal, dass ich richtig gearbeitet habe – mit 8-Stunden-Tag, Urlaub, Schlüsselnummer, Kolleg:innen und allem Drum und Dran. Diese Art von Alltag und Austausch werde ich in den nächsten Jahren Studium erstmal nicht mehr erleben. Besonders dankbar bin ich auch für die Vielfältigkeit meiner Arbeit. Ich habe quasi ein FSJ in einem Archiv, in einer Bibliothek, in einer Kustodie und in der Gedenkstättenpädagogik gleichzeitig gemacht. All diese Bereiche durfte ich kennenlernen, mich einbringen. Kaum eine Einsatzstelle bietet so viele Möglichkeiten. Ob ich nun hinter Archivdokumenten saß oder vor Schülergruppen stand, ich habe alles mal ausprobiert, in allem etwas für mich gefunden.

Oft wurde ich im vergangenen Jahr gefragt, was das mit mir macht, jeden Tag an diesem Ort zu arbeiten, ob es mich mitnimmt oder abstumpft. Was habe ich geantwortet? Zunächst, nein, es stumpft nicht ab, nicht nach einem Jahr und sicher auch nicht nach 10 Jahren. Und ja, es nimmt mich mit, aber gar nicht unbedingt der Ort selbst in erster Linie. Eher das, was ich darüber lerne, die Schicksale, mit denen ich konfrontiert werde, die Ereignisse über die ich lese und spreche. Der historische Ort hinterlässt natürlich seinen Eindruck, aber es sind die Inhalte, mit denen er gefüllt wird, die immer wieder bewegen.

Es gibt viele Dinge, an der Gedenkstätte, in Weimar, von denen es schwer ist, sich zu trennen, viele Kollegen und Kolleginnen, Freunde, die ich jetzt vermissen werde. Bei allem, was man, bei einem solchen Abschied zurücklässt, nimmt man natürlich auch ganz viel mit. Dinge, die man sehen kann: wie die Holzklötzchen der Verschwindenden Wand, die weiterhin auf meinem Schreibtisch stehen werden. Dinge, die man nicht sehen kann – Wissen, Erfahrung, Entwicklung. Und natürlich werden wir alle als ehemalige Freiwillige immer wieder nach Buchenwald und Weimar zurückkehren – an Jahrestagen teilnehmen, Gedenkveranstaltungen mitverfolgen, neue Ausstellungen besichtigen, Museen in Weimar besuchen und wieder die Rudolf-Breitscheid-Straße entlanglaufen.
 
Franka
 
 
Franka vor dem ehemaligen Krematorium
auf dem Appellplatz von Buchenwald