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„Kind, kein Einsatz“ – Die Arbeit im Archiv der Gedenkstätte Buchenwald

Was bedeutet es für mich, im Archiv zu arbeiten? Das bedeutet zunächst, dass sich auf meinem Schreibtisch meistens Ordner, Dokumente, Register, Listen und Zettel häufen. Es bedeutet, dass ich manchmal ewig über die Schreibweise eines ukrainischen Ortes grüble. Oder, dass ich zusammen mit meinen Kolleginnen versuche, eine unleserliche Handschrift zu entziffern. Es kann auch bedeuten, dass ich fieberhaft google, wie man „Reichssicherheitshauptamt“ ins Englische übersetzt. Oder dass ich völlig verzweifle, weil es zwei Häftlinge mit dem gleichen Namen und Geburtsdatum gibt.

Mit solchen kleinen und größeren Problemen schlägt man sich im Archiv bei der Anfragenbeantwortung herum. Das Archiv der Gedenkstätte Buchenwald steht für jeden offen, der Informationen über einen ehemaligen Buchenwald-Häftling erhalten möchte. Meistens sind es Angehörige, die herausfinden möchten, ob ihr Familienmitglied tatsächlich in Buchenwald inhaftiert war. Sie stellen eine Anfrage an das Archiv, in der sie alles über den Menschen berichten, was sie bereits wissen. Wir überprüfen die Angaben und stellen fest, ob die Person ein Häftling war und was für Informationen über ihn erhalten sind. 

Mit unseren Quellen versuchen wir, den Haftweg des Menschen zu rekonstruieren, aber auch so viel wie möglich zu seiner Person und Familie herauszufinden. Das Geburtsdatum, der Wohnort, das Verhaftungs- und Einlieferungsdatum, die Häftlings- und Blocknummer, die Häftlingskategorie, die Arbeitskommandos und Außenlager, womöglich ein Todesdatum – all das sind Informationen, die wir zusammensammeln. In einer umfassenden Antwort an die Angehörigen legen wir die Geschichte des Menschen dar, zumindest so weit wir sie aufdecken konnten.

Für die Angehörigen ist unsere Recherche oftmals sehr wichtig. Nicht selten erhalten wir dankbare Antworten von Menschen, denen die Archivfunde sehr bei der Bewältigung ihrer Familiengeschichte geholfen haben. Für viele schließt es eine Lücke, gibt Gewissheit und die Möglichkeit, die Vergangenheit aufzuarbeiten.

Mit welchen Dokumenten arbeiten wir? Wo bekommen wir all unsere Informationen her? Diese Fragen beantworten sich aus der Geschichte des Konzentrationslagers. Jeder neu eingelieferte Häftling wurde zunächst in der Politischen Abteilung, der Zweigstelle der Gestapo im Lager, registriert. Dort wurde eine Häftlingsakte zu ihm angelegt, die aus vielen einzelnen Haftdokumenten bestand. Parallel dazu erfolgte die Registrierung in verschiedenen Karteien der Abteilung III des Konzentrationslagers, der Schutzhaftlagerverwaltung.

So gab es zum Beispiel die Häftlingspersonalkarte, auf der alle persönlichen Fakten, der Haftweg, das Aussehen und die Haftkategorie verzeichnet waren. Darüber hinaus wurde eine Effektenkarte erstellt, auf der alle mitgebrachten Habseligkeiten des Häftlings aufgelistet waren, die ihm gleich bei der Ankunft abgenommen wurden. Die Arbeitseinsatzkarte erfasste alle Arbeitskommandos und Außenlager, in denen der Häftling Zwangsarbeit leisten musste. Die Krankenkarte dokumentierte die bisherige Krankheitsgeschichte und alle Einlieferungen in den Häftlingskrankenbau. Schreibstubenkarte, Geldkarte, Postkontrollkarte … es gibt noch vieles mehr.

Nicht immer wurde zu jedem Häftling auch jedes Dokument angelegt und nicht immer ist zu jedem Häftling jedes Dokument erhalten. Manchmal können wir aus einem großen Pool an Unterlagen schöpfen, manchmal sind es nur zwei bis drei Dokumente, die uns zur Verfügung stehen. Leider können wir den Anfragenden nicht immer ein umfangreiches Bild über ihre Angehörigen zeichnen.

Die Frage ist nur: Können wir das überhaupt? All diese Dokumente sind immerhin Täterdokumente. Sie stammen aus der Zeit des Nationalsozialismus, wurden von SS und Gestapo aufgesetzt und sind in Tätersprache verfasst. Das darf man nie vergessen, wenn man mit ihnen arbeitet. Es ist wichtig, die angegeben Informationen immer zu hinterfragen.

Wenn man die Dokumente liest, muss man sich bewusst machen, dass sie aus der Perspektive der Täter geschrieben sind. Sie sind in der Sprache verfasst, mit der die SS Menschen ausgegrenzt, stigmatisiert und entmenschlicht hat. Wenn ich zu einem Häftling recherchiere, der auf den Dokumenten als „politisch“ beschrieben wird, bedeutet das nicht automatisch, dass er im politischen Widerstand tätig war. Jemand, den die SS als „Berufsverbrecher“ kategorisiert hat, muss nicht unbedingt kriminell gewesen sein. Die Bezeichnung „asozial“, mit der viele Häftlinge belegt wurden, ist keine neutrale Beschreibung, sondern eine Zuschreibung der Täter im Sinne der NS-Ideologie. In der Anfragenbeantwortung muss man diese Begriffe immer kontextualisieren.

Da wir fast ausschließlich mit Dokumenten der Täterseite arbeiten, entsteht ein weiteres Problem: Wir haben nur Zugriff auf die Informationen, die die SS als wichtig erachtete. Zwar wurden zu jedem einzelnen Häftling viele Fakten akribisch dokumentiert – wirklich aussagekräftig sind diese aber nicht. Was erfahren wir schon wirklich über die Persönlichkeit des Menschen, über seine Familie, sein Leben? Was können wir den Angehörigen schon darüber schreiben, wer ihr Verwandter oder ihre Verwandte wirklich war? Vielleicht können wir die Blocknummer oder ein Arbeitskommando ablesen – aber wissen wir, was die Zeit im Konzentrationslager für die Person bedeutet hat? Was sie in ihrem Block, in ihrem Arbeitskommando erlebt hat? Diese Informationen findet man in keinem Dokument, sie sind von der Geschichte verschüttet. Da stößt ein Archiv an seine Grenzen.

Welche Möglichkeiten hat das Buchenwald-Archiv dennoch? Was umfasst es alles, wo und wie sind die ganzen Informationen gespeichert? Auch für diese Antworten müssen wir einen Blick in die Geschichte werfen. Nach der Befreiung im April 1945 stellten die Amerikaner die Originalakten des Konzentrationslagers sicher. Als es zum Besatzungswechsel kam, nahmen sie die Dokumente mit und verwendeten sie unter anderem in den Dachauer Buchenwaldprozessen 1947. Darauf wurden die Unterlagen vom Internationalen Suchdienst des Roten Kreuzes übernommen. Vor Ort in Buchenwald gab es nämlich keine Institution, keine Gedenkstätte, die sich darum kümmern konnte: Zu dieser Zeit befand sich in Buchenwald das Speziallager Nr. 2, von der sowjetischen Besatzungsmacht geführt.

Bad Arolsen, eine Stadt in Hessen, wurde schließlich zum Copyholder der Dokumente des KZ Buchenwald für Deutschland bestimmt. Der Grundbestand dieses Archives besteht aus mehr als 400 Ordnern und über 60 Büchern. Die „Arolsen Archives“ arbeiten außerdem daran, all ihre Unterlagen zu digitalisieren und in einem Online-Archiv zugänglich zu machen. Dieses Online-Archiv ist heute eine unserer größten Quellen.

Das Buchenwald-Archiv selbst existierte bis 1971 gar nicht. Versuche, an die Unterlagen im Arolsen Archiv zu kommen blieben bis 1989 erfolglos. Danach erhielt das Archiv in Buchenwald sukzessive Einblicke in den Bestand und 2014 dann alle Dokumente in digitaler Form. Das Buchenwald-Archiv umfasst heute zahlreiche Dokumente, Berichte und Zeugenaussagen, Nachlässe und Materialsammlungen, aber auch ein Fotoarchiv, eine Mikrofilmsammlung, Mediathek und Zeitungsauschnittsammlung.

Jede Woche bearbeite ich neue Anfragen von Angehörigen, die oft kompliziert, manchmal langwierig, aber immer spannend sind. Jedes Mal aufs Neue denkt man sich in die Geschichte eines Menschen hinein, versucht, all seine Stationen nachzuvollziehen, jedes wichtige Datum, jeden wichtigen Fakt ans Tageslicht zu bringen. Jedes Schicksal ist dabei einzigartig, jedes ist bewegend. Jedes gibt einen tieferen Einblick in die Geschichte des Konzentrationslagers Buchenwald.

So beantwortete ich zum Beispiel die Anfrage zu Ernst K., einem Sinto-Jungen. Er war erst 14 Jahre alt, als er in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert und 1944 nach Buchenwald überstellt wurde. Zunächst musste er im Rüstungsbetrieb Gustloff-Werk II Zwangsarbeit leisten. Von diesem Arbeitskommando zog man ihn wenig später wieder ab, auf seiner Arbeitseinsatzkarte ist vermerkt: „Kind, kein Einsatz.“ Ich brauchte ewig, bis ich das entziffert hatte.

Danach kam Ernst K. in den Steinbruch. Er bat um ein anderes Kommando und gab an, schneidern zu können, was jedoch nicht stimmte. Im Arbeitskommando Häftlingsschneiderei sollte er nun innerhalb von wenigen Tagen eine Hose nähen. Mit Hilfe eines Kapos und zwei Schneidern konnte er die Hose fertigstellen. Diese Geschichte machte ihn unter den Häftlingen im Lager bekannt. 

Wenige Wochen danach sollte ein Transport mit Kindern aus Buchenwald nach Auschwitz gehen. Ernst K. war Nummer elf auf der Transportliste. In letzter Minute wurden zwölf Namen, darunter seiner, von der Häftlingsverwaltung gestrichen und durch andere ersetzt. So entging er dem Transport.

Marcelle W. ist eine der wenigen Frauen, deren Anfrage ich bearbeitete. Zusammen mit ihrem Ehemann Jean W. lebte sie in Paris. 1944 wurde sie in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück eingewiesen und später in das Buchenwalder Außenlager Torgau. Auch ihr Mann wurde nach Buchenwald deportiert. Beide Eheleute starben vor Kriegsende im KZ.

Haftnummer 4501. Hinter dieser Zahl steht ein Mann namens Friedrich Heinz S., Konditor aus Leipzig. In einer Verhaftungsaktion gegen als „asozial“ Stigmatisierte wurde er von der Gestapo verhaftet und nach Buchenwald verbracht. Er lebte in Baracke 43. Am 23. Mai 1942 starb er in Buchenwald. Die offizielle Todesursache lautete „akute Herzschwäche“.

Es sind nur drei Beispiele aus den über 80 Anfragen, die ich in meiner Zeit als Freiwillige schon bearbeitet habe. Die Recherche im Archiv ist eine Erfahrung, die mein FSJ entscheidend mitprägt. Kaum ein Buch, ein Artikel, ein Film kann vermitteln, was es bedeutet, in Originalquellen nach einem Menschen zu suchen. Für eine Stunde, drei Stunden, manchmal auch für einen ganzen Tag hat man nur einen Namen im Kopf, den Namen einer Person, die man nicht kennt, die wahrscheinlich schon lang tot ist, aber die für diese Zeit zur wichtigsten Person überhaupt wird.

Die Geschichte dieses einen Menschen, die so lange im Verborgenen lag, wird auf einmal bedeutsam und erfahrbar. Ich finde den Gedanken schön, dass man einer einzelnen Person so viel Aufmerksamkeit schenkt, wo sie doch vor so vielen Jahren von der SS als unwichtig und minderwertig ausgeschlossen und degradiert wurde. Diese Personen werden wieder als Menschen betrachtet. Jedes Detail erklären wir für essentiell und suchen für die Familie, die gespannt auf eine Antwort wartet, alles heraus, was das Schicksal ihrer Angehörigen etwas sichtbarer macht. Kaum eine Arbeit an der Gedenkstätte individualisiert das Konzentrationslager so sehr wie die Recherche im Archiv.

Mir verdeutlicht es auch immer wieder aufs Neue, dass die Zeit des Nationalsozialismus zwar schon viele Jahre vergangen, aber deshalb nicht weniger relevant und aufwühlend ist. Auch 2021 gibt es noch Menschen, die wissen möchten, was mit ihren Großeltern, Urgroßeltern, Müttern und Vätern passiert ist und wie deren Leben mit dem Konzentrationslager Buchenwald verbunden ist. Menschen, die immer noch nach Antworten suchen.

Natürlich hat man auch im Archiv eine ganz normale Arbeitsroutine. Nicht in jeder Sekunde führt man sich die Bedeutung seiner Arbeit in pathetischen Worten vor Augen, nicht in jeder Sekunde denkt man so tiefgründig darüber nach. Aber manchmal suche ich auf einer der zahllosen Einlieferungslisten einen bestimmten Namen, gehe Liste für Liste durch. Meine Augen überfliegen die unzähligen Namen, die meisten davon unbekannt, unsichtbar, vergessen. Und dann bleibt mein Zeigefinger auf einem der Namen stehen – den, den ich gesucht habe. Ein Name, den ich jetzt kenne, der jetzt nicht mehr unsichtbar ist. Das bedeutet die Arbeit im Archiv für mich. 

Franka  


Fotos: Arolsen Archives/Johanna Groß