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Zu schnell, zu leicht und paradox –
Unser vergessendes Gedenken
 

Nie wieder. Nie wieder – was? Nie wieder – wer?

„Nie wieder“ ist der Kopf der deutschen Erinnerungskultur, der Sprecher für das kollektive Gedenken. „Nie wieder“ erzählt uns viel von der Vergangenheit und will uns belehren. An jeder Ecke des Gedenkens und Erinnerns hört man es rufen – mal leise, mal laut. „Nie wieder“ sagt uns, dass die Vergangenheit schrecklich war und die Zukunft keinen Platz für eine Renaissance bieten darf.

„Nie wieder“ ist vor allem aber zu einem Narrativ geworden, das fast floskelhaft – man möchte meinen vorschriftsmäßig – an unser Gedenken angehangen wird. „Nie wieder“ lässt sich schnell sagen, geht leicht von den Lippen und drückt ja an sich auch eine wichtige Botschaft aus: Nie wieder zulassen, dass ein Ereignis wie die Machtübernahme der Nazis und die darauffolgenden zwölf Schreckensjahre Wiederholung finden, denn daran haben wir gesehen, wie schnell eine scheinbar gut abgesicherte Demokratie durch „den Wolf im Schafspelz“ untergraben und ausgehöhlt werden kann.

Aber genau das ist das Problem: Es lässt sich zu schnell sagen, geht zu leicht von den Lippen und hat dabei eine so wichtige Bedeutung. Wenn wir „nie wieder“ sagen, fühlt sich das Gedenken echt an, denn wir drücken damit aus, dass wir uns dessen bewusst sind, dass derartige Grausamkeiten nie wieder diese Gesellschaft überschatten dürfen. Es ist aber falsch anzunehmen, damit sei jegliches Leid gelindert oder revidiert. Es wirkt sinnentleert – was tun wir denn eigentlich, dass „nie wieder“ wirklich gehaltvoll wird?

Zu wenig, meiner Meinung nach. Obwohl doch schon viel getan wurde. Wir haben in Deutschland beispielsweise zahlreiche Gedenkstätten, Mahn- und Denkmäler, Gedenktage, Zeitzeugnisse und Informationsquellen, die öffentlich zugänglich sind. Es steht uns frei, KZ-Gedenkstätten zu besuchen, um uns über die NS-Zeit und den Holocaust zu informieren; in der Schule lernen wir ab neunter, zehnter Klasse über diese Thematik. Und da kommen sie, die Begriffe, mit denen wir dann um uns werfen können – Ermächtigungsgesetz, Machtübernahme und Machtergreifung, Juden, Sinti, Roma, Konzentrationslager… –, aber schlauer sind wir irgendwie doch nicht geworden. Weil Geschichte langweilig ist, zu trocken, uns ja eigentlich nichts mehr angeht. Was können wir schon dafür, was unsere Vorfahren – ja vielleicht nicht einmal die –, was andere Menschen vor 80 Jahren verbrochen haben? Wir schließen die Schule ab und damit oft auch diese Thematik. Es ist ja „nur Schulstoff“ gewesen, jetzt konzentriert man sich darauf, was wirklich wichtig ist.

Sicherlich kann man nicht für alle Menschen sprechen, ich könnte so nicht einmal für mich sprechen. Aber ich habe es wahrgenommen bei vielen meiner Mitschüler:innen und in der Familie. Das Fach Geschichte dürfte eigentlich nicht als unwichtig abgestempelt werden. Es ist doch einer der wichtigsten Bildungsaspekte – wir lernen zwar über die Vergangenheit, doch das nur mit dem Ziel, zu verstehen, wie sich der Mensch entwickelte, wie sich Gesellschaften und Ideologien bildeten, was dem Menschen über die Zeit wichtig wurde, welche allumfassenden Sorgen und Ängste ihn trieben und wie die Extreme dieser Dinge ausarteten. Wir lernen daran, Tendenzen und Strömungen nachzuvollziehen und zu reflektieren. Wir können im Idealfall also unsere heutige Situation kritisch beäugen und gegebenenfalls Parallelen entdecken.

Bevor ich mich mit dem Thema Nationalsozialismus derartig detailreich auseinandergesetzt habe, also das Freiwilligenjahr in der Gedenkstätte begann, kannte ich Zahlen, Fakten, Daten und entscheidende Ereignisse aus dem Geschichtsunterricht. Ich habe mich immer gern und angeregt damit auseinandergesetzt und dachte wohl, ich wüsste alles Wichtige. Ich dachte wohl, darüber hinaus gäbe es nicht viel mehr zu wissen und selbst wenn, wichtig genug, um im Unterricht Erwähnung zu finden, war es scheinbar nicht. Mit Begriffen habe ich um mich geworfen – Ermächtigungsgesetz, Machtübernahme und Machtergreifung, Juden, Sinti, Roma, Konzentrationslager… – und geglaubt, ich sei aufgeklärt genug, um Derartiges wirklich „nie wieder“ zuzulassen.

Der Freiwilligendienst war eine Kehrtwende, nicht nur in Bezug auf Wissenserweiterung, sondern ganz besonders im Rahmen meines Bewusstseins, meiner Denk- und Sichtweise. Lesen bringt viel, aber nicht alles. Informieren prägt Einstellungen, aber nicht endgültig die persönliche Haltung. Sehen bewegt innerlich, garantiert aber doch kein nachhaltiges Bewusstsein. Es gehört Arbeit, Offenheit und viel Überwindung dazu, sich im Kern damit auseinanderzusetzen, was vor fast 90 Jahren passierte – um zu verstehen, was vor fast 90 Jahren passierte. Das gewährleistet kein unfreiwilliger Geschichtsunterricht in der Schule. Der Unterricht kann, wenn überhaupt, nur Anreize schaffen für eine tiefgreifendere, fortführende und eigeninitiierte Auseinandersetzung mit dem Thema. „Kritisches Geschichtsbewusstsein“ heißt das Ziel, das leider noch viel zu oft ideal bleibt.

Ein weiterer entscheidender Wendepunkt in meiner Haltung dem Thema gegenüber fand statt, als ich im Juni 2021 nach Berlin gefahren bin. Im Rahmen des Holocaust-Gedenktages wird Jahr für Jahr eine Jugendbegegnung vom Bundestag organisiert, wobei Jugendliche eingeladen werden, die sich in der Gedenk- und Erinnerungsarbeit engagieren. Der 27. Januar als Gedenktag sollte wie sonst auch als Aufhänger genutzt werden, um sich angeregt und intensiv mit Gleichaltrigen auszutauschen, Erkenntnisse zu gewinnen und Weiterbildung auf verschiedensten Ebenen zu erfahren. Pandemiebedingt verschoben, stand die Begegnung dieses Jahr im Zeichen des 80. Jahrestags des Überfalls der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941.

In Berlin ist mir eines ganz besonders klargeworden: Unser Gedenken hat Lücken, hat Löcher, die so groß sind, dass man sie eigentlich gar nicht übersehen kann und doch werden sie vergessen. Juden, Sinti, Roma sind die Paradebeispiele, wenn es um Gedenken geht. Die Shoah bzw. der Holocaust ist der zentrale Begriff, wenn es um die NS-Zeit geht. Das ist nicht falsch – Juden hatten und haben untragbare Verluste zu verzeichnen, die man nicht relativieren kann und darf. Doch umso mehr stellt sich mir die Frage, wie man 27 Millionen Menschen vergessen kann, die im deutsch-sowjetischen Krieg ums Leben kamen (über die Hälfte davon Zivilisten wohlgemerkt). Leningradblockade war ein Begriff, den ich vorher mal aufgeschnappt hatte, die Massenmorde von Babyn Jar ein Ereignis, mit dem ich nichts anfangen konnte.

Diese Lücken und Löcher dürften eigentlich nicht existieren, vor allem nicht, wenn wir heute von uns behaupten, dass wir den Opfern angemessen gedenken. Wir können keine Opfergruppe anderen gegenüber priorisieren, weil wir uns diesen vielleicht mehr verpflichtet oder schuldig gegenüber fühlen. All das trägt eher zu einer Art von Geschichtsrelativierung bei und das geht mit einem angestrebten kritischen Geschichtsbewusstsein in keiner Weise konform. Jeder Mensch, der im NS verfolgt, ins KZ gesperrt, beleidigt, diffamiert, misshandelt oder ermordet wurde, war Opfer. Egal, welche Vergangenheit er hatte, egal woher er kam, welche Motive und Einstellungen ihn prägten. Wir müssen diesem Aspekt des unvollständigen Gedenkens Aufmerksamkeit entgegenbringen, da es an dieser Stelle anzusetzen gilt, um nachhaltig und zukunftsorientiert gedenken zu können, diesen vergessenen Opfergruppen aber vor allem Gerechtigkeit entgegenbringen zu können.

Seit Kriegsende 1945 gibt es den Nationalsozialismus offiziell nicht mehr. Nazis, Anhänger, Profiteure und Mitläufer sind jedoch nicht hinter dem Buchdeckel verschwunden, der das Kapitel Nationalsozialismus geschlossen hat. Entnazifizierung hin oder her, ob Auschwitz- oder Buchenwaldprozesse, Deutschland hat es in 76 Jahren nicht geschafft, neben vollständigem, gerechtem Gedenken eine scheinbar so tief eingebrannte Ideologie loszulassen. Gerade jetzt wird das Land erneut gespalten: Querdenkerdemos, Menschen, die sich mit Sophie Scholl und Anne Frank und dem großen Unrecht, was ihnen widerrfahren ist, vergleichen und eine rechte Partei, die darauf neue Kraft schöpft und sich unter dem Eindruck der Krisensituation neues Gehör verschafft fast ein Déjà-vu, denke man an unsere erste deutsche Republik.

Das Muster ist immer das gleiche: Strömungen, Gedanken, Wünsche, Sorgen und Ängste einer Gesellschaft werden von Einzelnen aufgegriffen, die diese ausnutzen, zu Demagogen werden und somit im Handumdrehen Massen für sich gewinnen können. Beweise dafür finden wir heute zuhauf.

In einem Dreivierteljahrhundert ist Deutschland nicht verschont geblieben von rechten Übergriffen Begriffe wie Hanau, Halle, NSU und zahlreiche andere bleiben im Kopf. Auf der Jugendbegegnung im Bundestag wurde dazu aus den Reihen der Jugendlichen gefragt, ob dies ein Beweis für die fehlgeschlagene Erinnerungskultur sei es brauche einen Umbruch in der deutschen Gedenk- und Erinnerungskultur, besonders aber inhaltliche Auseinandersetzung und Aufarbeitung der Geschehnisse anstatt Symbolpolitik. Die Antwort der Politik blieb offen. 

Gehört zum „Nie wieder“ nicht auch das Verhindern solcher Einzelfälle, die bei der Fülle eigentlich nicht mehr Singularitätsanspruch haben dürften? Seit Jahren gibt es einen Prozess wachsender Aggression von Rechts, Hass-Rhetorik, Gewalt vor allem gegenüber Minderheiten – Tendenz steigend. Daneben öffentliche Aussagen wie „Man muss uns diese zwölf Jahre nicht mehr vorhalten. Sie betreffen unsere Identität heute nicht mehr. […] Deshalb haben wir auch das Recht, uns nicht nur unser Land, sondern auch unsere Vergangenheit zurückzuholen so Alexander Gauland. Höcke sagte 2017 über das Berliner Holocaust-Denkmal: „Wir Deutschen, also unser Volk, sind das einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat.“ Ist all dies nicht Beweis genug für eine „fehlgeschlagene Erinnerungskultur“?

Mit einer Partei wie der AfD und Zentralpersonen, die die Namen Höcke oder Gauland tragen, müsste uns doch sofort auffallen, wohin Aussagen wie „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte führen, auf welchem Gedankengut sie basieren. Wir begegnen offensichtlich rechten Demagogen, werden damit Tag für Tag in den Nachrichten und sozialen Netzwerken konfrontiert und doch scheint kaum etwas davon ausreichend zu sein, um die Alarmglocken läuten zu lassen.

Keine andere Zeitschicht scheint unsere heutige Gesellschaft so sehr zu beschäftigen, wie die des „Dritten Reichs“. Kaum verwunderlich, können wir die Opferzahlen der NS-Zeit zwar in Zahlen fassen, für uns selbst aber gar nicht realisierbar machen. Es ist nicht zu bestreiten, dass diese zwölf Jahre deutscher Geschichte unsere Nation bis heute geprägt haben und in der Welt immer noch ein zentrales Merkmal sind, mit dem Deutschland verbunden wird. Damit müssen wir umgehen.

Am Gestern können wir nichts ändern, das Heute lassen wir geschehen. Aber das Morgen können wir noch gestalten. Die Tora sagt, dass alles, was einmal geschehen ist, wieder geschehen wird. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind eng verknüpft und beruhen aufeinander. Es geht darum, entsprechende Tendenzen so früh wie möglich zu erkennen und demnach zu handeln. Wir jüngeren Generationen, die jetzt den Bogen vom Heute zum Morgen spannen, tragen Verantwortung dafür – nicht für die Schuld, die unseren Vorfahren anzurechnen ist, denn niemand kann sich aussuchen, in welche Familie man geboren wird. Nein, wir sind heute in der Pflicht, das Gedenken und Mahnen an das Geschehene zu wahren und besonders für zukünftige Generationen wachzuhalten – egal, ob es uns passt oder nicht.

Während meiner Zeit als Freiwillige in der Gedenkstätte Buchenwald habe ich mich beim Erstellen meiner Führungskonzeption viel damit auseinandergesetzt, was für mich eigentlich die Grundessenz eines Rundgangs durch Buchenwald, im Grunde genommen aber jeder Gedenkstätte ist. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass der Ort selbst gar nicht unbedingt der Bedeutungsträger sein muss – ob wir das Lagertor in Dachau, Sachsenhausen oder Buchenwald sehen, macht in dem Zusammenhang keinen Unterschied. Was bringen uns Fakten, Zahlen, Daten; was bringt es, uns Detailwissen über zeitliche Abläufe und Statistiken anzueignen, wenn wir doch nicht wissen, was wir damit anfangen sollen?

Ziel sollte sein, Menschen zu ermöglichen, einen Mehrwert aus der Sache zu ziehen und für sich selbst Erkenntnisse mitzunehmen. Ich dachte anfangs, man sollte mit Fragen in eine Gedenkstätte kommen und mit Antworten wieder gehen. Ich bin nun der Überzeugung, man sollte mit Offenheit und Interesse anreisen und sich mit möglichst vielen Fragen verabschieden. Der Besuch einer Gedenkstätte sollte dazu anregen, sich selbst mit dem Thema auseinanderzusetzen und bewusster durch die Welt zu gehen. Daten und Fakten können eine gute Grundlage bilden. Was zählt sind letztendlich aber die Schlüsse, die wir daraus ziehen. Denn ein Bezug zu diesen Details ist heute nicht mehr möglich – wie auch, wir schreiben das Jahr 2021, nicht 1933. Ich stelle mir daher lieber die Frage nach der abstrahierten Message dahinter, um heute nachhaltig und angemessen gedenken zu können.

„Nie wieder“ spiegelt in vieler Weise unsere Gedenk- und Erinnerungskultur wider, wobei selbst das Wort „Erinnerung“ zu Verwirrung führt. Für viele der heute noch lebenden Generationen liegt dieses Dreivierteljahrhundert schon zu weit weg, um im Geringsten Erinnerungen zu haben. Wie erinnert man sich an etwas, das man nie erlebt, nie gesehen oder erfahren hat?

Ob nun eine abgetretene Floskel oder ein paradoxer Begriff, beide sprechen Bände davon, welche Defizite auf dem Gebiet des Gedenkens heute noch herrschen. Unser Gedenken sollte ernsthafte Funktionen erfüllen, die dem Wiederaufleben einer nationalistisch überspitzten Situation entgegenwirken, Menschen nachhaltig aufklären und die Lehren aus der Vergangenheit ins Heute, besonders aber ins Morgen tragen.

Stéphane Hessel, ehemaliger Buchenwaldhäftling, sagte einmal: „Es gibt kulturelle Unterschiede, aber keine zivilisatorischen“. Wir Menschen können uns unterscheiden in Kultur, Herkunft, Sprache, Glaube, Gesinnung. Wir können aber nie verleugnen, dass wir eine Eigenschaft haben, die uns alle gleich macht – wir sind Menschen. Wir haben die gleichen Rechte, die gleichen Pflichten. Es klingt so leicht, so simpel und verständlich, man möchte es eigentlich gar nicht erklären. Wenn wir uns die heutige Gesellschaft ansehen, in der wir Tag für Tag leben, dann wirkt diese Botschaft jedoch fast wie Utopie.

Sophia 
 
 
Eindrücke von der Jugendbegegnung in Berlin