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„Ach Kuckuck, ich höre dich gut auf der anderen Seite des Lebens…“
– Der 22. Juni 1941

 
Vier Freiwillige der Gedenkstätte Buchenwald stehen auf dem Erfurter Hauptfriedhof am Sowjetischen Ehrenmal. Wir, die Freiwilligen, lesen aus Erinnerungsberichten von Opfern des Zweiten Weltkriegs. Bei uns stehen Ministerpräsident Bodo Ramelow, Landtagsvizepräsidentin Dorothea Marx und Stiftungsdirektor Jens-Christian Wagner. Besucher:innen sind kaum anwesend, die Pandemie lässt es nicht zu. Es ist kühl, die Stimmung ist ernst, feierlich bedrückt. Es ist der 22. Juni 2021. 
 
An diesem Tag, vor genau 80 Jahren, überfiel die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion und begann damit einen in der Geschichte beispiellosen Vernichtungskrieg. Einsatzgruppen aus Mitgliedern der SS und Polizei rückten hinter der Front vor und ermordeten systematisch Teile der sowjetischen Bevölkerung. Tausende, häufig junge Männer, wurden zu Massenmördern. Millionen Menschen, vor allem Juden, wurden zu Opfern der Vernichtung. Mit dem Tag des Überfalls begann ein ungeheures Massenverbrechen. Es war der 22. Juni 1941. 
 
Im Frühjahr 1941 hatte Nazi-Deutschland fast ganz Europa unter Kontrolle. Nach dem Überfall auf Polen besetzte die Wehrmacht die europäischen Länder Dänemark, Norwegen, Niederlande, Belgien und Luxemburg. Als die deutsche Wehrmacht 1940 auch in Frankreich einmarschierte, befand sich Hitler auf dem Höhepunkt seiner Macht. Schon Ende 1940 bereitete er dann mit der „Weisung Nr. 21“ den Angriff auf die Sowjetunion vor.

In der Ideologie des Nationalsozialismus galt die Sowjetunion als Träger des „jüdischen Bolschewismus“ und damit als Todfeind. Ein angeblicher „Präventivschlag“ sollte die vermeintliche unmittelbare Bedrohung für das Deutsche Reich abwenden. Der Krieg gegen die Sowjetunion war jedoch von vornherein ein Angriffs- und Eroberungskrieg. Die Nationalsozialisten wollten „Lebensraum“ für die deutsche Bevölkerung gewinnen und die wirtschaftlichen Ressourcen der besetzten Gebiete ausbeuten. Die dort lebenden Menschen sollten als Zwangsarbeiter:innen versklavt werden.

Im Gegensatz zum Krieg im Westen war der Feldzug gegen die Sowjetunion von Anfang an als ideologischer Weltanschauungskrieg und rassistischer Vernichtungskrieg angelegt. In den Augen der Nationalsozialisten war es ein Kampf der überlegenen „arischen Rasse“ gegen die sowjetischen „Untermenschen“. Die Auslöschung der jüdischen Bevölkerung und kommunistischen Führungsschicht war das Ziel.

So hatte Hitler schon am 6. Juni den sogenannten Kommissarbefehl erlassen. Wie kaum ein anderes Schriftstück dokumentiert er die verbrecherische Absicht des Deutschen Reiches in der Sowjetunion. An die deutsche Wehrmacht gerichtet, ordnete er an, politische Kommissare nicht als Kriegsgefangene zu behandeln, sondern sofort zu ermorden.

Die Umsetzung dieses Befehls begann mit dem Einfall des deutschen Heeres in die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Das „Unternehmen Barbarossa“ nutzte den Überraschungseffekt aus und schien anfangs ein weiterer Blitzkrieg zu werden. Stalin konnte zunächst nicht glauben, dass das Deutsche Reich sein Land angegriffen hatte. Eigentlich bestand zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und der kommunistischen Sowjetunion eine Nichtangriffsvereinbarung, der Hitler-Stalin-Pakt von 1939. In diesem Bündnis hatten sich beide Staaten Neutralität zugesichert. Den Pakt hatte Hitler nun gebrochen, die Länder befanden sich im Krieg.

Die Wehrmacht konnte schnell in den Osten vordringen, schon nach vier Monaten stand sie an den Stadtgrenzen Moskaus. Ende 1941 waren das Baltikum, Belarus und ein Großteil der Ukraine eingenommen. Tatsächlich begrüßten viele Menschen dieser Länder die Deutschen zunächst mit Begeisterung, feierten sie als Befreier von der stalinistischen Diktatur. Als klar wurde, dass Deutschland keinen Frieden, sondern Gewalt und Zerstörung brachte, schlug die Euphoriewelle in Hass um.
 
Die Einsatzgruppen, die sich hinter den Frontlinien bewegten, begannen schnell mit ihren „Sonderaufgaben“. Wo sie waren, hinterließen sie eine Terrorspur. Massenhaft erschossen sie Menschen aus rassistischen und ideologischen Gründen. Auch die Wehrmacht beteiligte sich.

Die Massenerschießungen waren die erste Stufe des Völkermords an den Juden, Sinti und Roma. Heute ist das allgemeine Bild des Holocaust von den Konzentrations- und Vernichtungslagern geprägt. „Auschwitz“ steht stellvertretend für einen Genozid, der fabrikmäßig organisiert wurde. So fing es aber nicht an. Nicht industriell in Vernichtungslagern, sondern als Gewaltexzess hinter der Frontlinie begann die Shoah. Meist in Tälern, Wäldern und verlassenen Gebäuden nahe den Wohnorten der Opfer fanden die Morde statt. Juden wurden aufgegriffen, mussten sich ausziehen und ihre Wertgegenstände aushändigen. In Gruppen wurden sie zu Gruben gebracht, erschossen und in Massengräbern – viele auch lebendig – begraben.

Eines der größten Massaker fand im September 1941 bei Kyjiw statt. In der Schlucht von Babyn Jar ermordete das Sonderkommando 4a 33.771 jüdische Einwohner, darunter auch Säuglinge. Bedingungslose Pflicht war das Morden nicht. Die Männer hatten die Möglichkeit, sich gegen eine Teilnahme an den Massenerschießungen zu entscheiden, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Die meisten verweigerten nicht. Bis Ende 1942 wurden 1,5 Millionen Juden von den Tätern der Einsatzgruppen, Wehrmacht, Polizei und örtlichen Hilfstruppen ermordet.

Eine weitere große Opfergruppe waren die sowjetischen Kriegsgefangenen. Die Wehrmacht tötete sie oder ließ sie verhungern. Später lieferte sie tausende Kriegsgefangene der SS aus, worauf die meisten systematisch in Konzentrationslagern umgebracht wurden. Unter anderem in Buchenwald errichtete die SS eine Exekutionseinrichtung, die gezielt auf den effektiven, schnellen, unauffälligen Massenmord ausgelegt war – die Genickschussanlage. Bis 1944 töteten SS-Männer 8.000 sowjetische Kriegsgefangene – eigentlich geschützt vom Völkerrecht – unter der Vortäuschung einer medizinischen Untersuchung. Die Mörder durften sich auch freiwillig melden, viele taten das. Die Angehörigen des sogenannten Kommando 99 wurden mit Alkohol, Tabak und Lebensmitteln belohnt und mit dem Verdienstkreuz 2. Klasse geehrt.

Sowjetische Kriegsgefangene wurden auch als Häftlinge nach Buchenwald eingeliefert. 2.000 kamen 1941 aus dem Stalag Wietzendorf bei Hamburg. Im Lager entstand ein neuer Bereich: das sowjetische Kriegsgefangenenlager. Dort herrschten elende Bedingungen, Ende 1942 waren nur noch 1.200 der Kriegsgefangenen am Leben, später nur noch 800.

1942 begannen die Nationalsozialisten, die sowjetische Zivilbevölkerung nach Deutschland zu deportieren und als Zwangsarbeiter:innen vor allem für die Kriegsproduktion auszubeuten. Aber nicht nur in Rüstungsbetrieben mussten die sogenannten Ostarbeiter schuften, auch auf Baustellen, in der Landwirtschaft, sogar in Privathaushalten. Zahlreiche deutsche Unternehmen und Betriebe profitierten von den deportierten Arbeitskräften. Verstieß ein Zwangsarbeiter oder eine Zwangsarbeiterin gegen eine der zahlreichen rigorosen Regeln, folgte harte Bestrafung – Einlieferung in Konzentrationslager, aber auch Hinrichtungen, die öffentlich stattfanden und von vielen Deutschen besucht wurden.

Je länger der Krieg gegen die Sowjetunion dauerte, desto offensichtlicher wurde die unabwendbare Niederlage für das Deutsche Reich. Viel zu schlecht vorbereitet und ausgestattet war die deutsche Wehrmacht im Gegensatz zur Roten Armee, die über viel umfangreichere Ressourcen an Menschen und Material verfügte. Heute wird häufig die Schlacht bei Stalingrad 1942/43 als Kriegswende bezeichnet, verloren war der Krieg für Hitler aber schon mit dem Überfall, meinen viele Historiker. Die Unterstützung der Sowjetunion durch die Westalliierten besiegelte die Niederlage Hitler-Deutschlands.

Am Ende war die Sowjetunion mit 27 Millionen Opfern das Land, das die Hauptlast des Zweiten Weltkriegs trug. Die Wehrmacht und die Einsatzgruppen hatten eine Blutspur hinterlassen, verwüstete und verbrannte Städte, Millionen ermordete, verhungerte oder deportierte Sowjetbürger.

Millionen, die alle individuelle Geschichten haben. Am 22. Juni 2021, dem 80. Jahrestags des Überfalls auf die Sowjetunion, lasen wir Freiwilligen diese Geschichten auf dem Erfurter Hauptfriedhof vor. Die szenische Lesung in Deutsch, Russisch und Ukrainisch sollte den unzähligen Opfern des Vernichtungskriegs in der Sowjetunion ein Gesicht geben, einen Namen, eine Stimme.

So musste der Russe Anatolij Kuleschow mehrere Lager der Deutschen durchlaufen: „Am Rande von Minsk war so ein Lager errichtet worden, Fahrzeuge und Maschinengewehre waren aufgestellt worden […].  Es war im Juli natürlich sehr heiß, sie gaben uns bloß gesalzenen Fisch. In der Nähe war ein kleiner Bach, dort drängten die Hungrigen und Durstigen hin, aber sie durften nicht zum Wasser, sonst wurden sie erschossen.“

Der Rotarmist Leonid Majorow berichtet: „Zu der Zeit, als wir transportiert wurden, hatten wir keine Vornamen, keine Familiennamen, keine Nummern. Wir wurden als Kolonne formiert und zogen durch die Straßen unter Bewachung deutscher Soldaten mit Hunden […]. Wir sind wochenlang ungewaschen, schmutzig, verlaust herumgelaufen.“

Taissa Tolkatchewa aus der Ukraine wurde nach Seebach, an den Rande des Thüringer Waldes zur Zwangsarbeit deportiert. Sie erinnert sich an die Reaktionen der deutschen Bevölkerung: „[…] immer wenn wir zur Arbeit gingen oder von der Arbeit kamen, sahen wir diese Jugendlichen und Kinder, die auch über uns lachten, mit Steinen nach uns warfen und uns auch als ‚Schweine‘ bezeichneten.“

Anton Kórotschka aus Kyjiw geriet 1942 bei Leningrad in Kriegsgefangenschaft und wurde in das KZ Buchenwald verbracht. Als er auf der Tuberkulose-Station im Krankenbau im Sterben liegt, diktiert er einem Mithäftling folgende Zeilen: „Nah bei meinem Haus / War da ein Wald. / Im Wald rief ein Kuckuck. / Der mir immer sagte, am Abend, / Ich kam aus der Schule: / ‚Anton, das Leben ist schön, / Aber man muss es finden. / Es ist wie ich, ein kleines Wunder, / Man hört mich und fängt mich doch nie.‘ / Ich fand das Leben, das glückliche, in meinem Land. / Jetzt verfaulen zu müssen. / Bei den Barbaren, Wie ist das traurig! / Ach Kuckuck, ich höre dich gut / Auf der anderen Seite des Lebens ….“

Ein kaum bekanntes Gedicht eines Sterbenden, dessen Leben der Vernichtungskrieg im Osten und das Konzentrationslager Buchenwald gewaltsam verkürzten. Mit diesen Zeilen endete auch unsere szenische Lesung. Nach dem Gedenken auf dem Erfurter Hauptfriedhof fuhren wir zurück in die Gedenkstätte, wo die Außenausstellung „Der Überfall auf die Sowjetunion“ eröffnet wurde. Ein ganzer Tag also im Zeichen der Erinnerung und Bildung.

Seit dem 22. Juni 1941 ist viel Zeit vergangen und uns kommen die Ereignisse von damals heute sehr weit weg vor. Gedenkfeiern, Ausstellungen, Blog-Artikel – all diese Dinge können Krieg und Leid auch nur begrenzt sichtbar machen und nicht alle Menschen erreichen, die sie erreichen sollten. 80 Jahre – so lang ist das nun auch wieder nicht her. Aber durch Desinteresse, oberflächliche Rufe nach Erinnerung und abstrakte Zahlen und Fakten kommt es uns oft nicht so vor, als hätte das alles heute noch etwas mit uns zu tun.

Und auch Erinnerungsberichte vorzulesen oder berührende Gedichte von Zeitzeugen zu rezitieren, ist kein Allheilmittel. Aber einigen, die Anton Kórotschkas Zeilen gelesen oder gehört haben, wird vielleicht klar, dass dieser Mann, der in Buchenwald seinen Tod kommen sah, ein Mensch war. Ein Mensch, genau wie wir heute. Der das Schöne im Leben suchte, der nicht sterben wollte. Genauso wie die anderen Millionen Opfer des Vernichtungskriegs, die heute auf der anderen Seite des Lebens stehen.
 
Franka
 

Sowjetisches Ehrenmal auf dem Erfurter Hauptfriedhof


Flussüberquerung deutscher Soldaten Anfang Juli 1941  
Foto: AP

Von der Wehrmacht gefangen genommene Rotarmisten
Foto: AP

Kriegsgefangene vegetieren auf offenen Feldern, meist
ohne Nahrungsmittel oder medizinische Versorgung dahin 
Foto: AP


Erste Seite des Kommissarbefehls 

Pferdestall auf dem Gelände des KZ Buchenwald, in dem
von 1941 bis 1944 8.000 sowjetische Kriegsgefangene
per Genickschussanlage systematisch ermordet wurden 
Foto: Sammlung Gedenkstätte Buchenwald, Fotograf: Alfred Stüber 
 

Überreste des Pferdestalls in der Gedenkstätte Buchenwald
Foto: Peter Hansen