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Vom Verschwinden, Verbinden, Bleiben und Blühen 

Kaum hatten wir zu erzählen begonnen, verschlug es uns schon die Sprache. 


Warum überhaupt mit abgenutzten Worten etwas ausdrücken wollen, was ein normaler Mensch sich gar nicht vorstellen kann? 


Dafür gibt es keine Worte, doch Worte müssen gefunden werden, um die Realität wiederzugeben, so wie sie gewesen ist.


– Robert Antelme, Aimé Bonifas und Albert van Dijk.


Man könnte es als eines lesen, tatsächlich sind es aber drei Zitate, die alle dasselbe auszudrücken suchen: die Zeit in den Konzentrationslagern Buchenwald und Mittelbau-Dora. Pünktlich zum Jahrestag der Befreiung dieser Lager konnten die Weimarer Bürgerinnen und Bürger Teil eines Projekts im öffentlichen Raum werden. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eröffnete zum Gedenktag am 11. April die Installation – eine Wand, die Tausende kleiner Holzklötze beinhaltete; darauf ebensolche Zitate ehemaliger, befreiter Häftlinge aus Buchenwald und Dora.


„Die Verschwindende Wand – mit Botschaften, die bleiben“, so der Titel der Konstruktion. Ein antithetischer Aufbau, der den Zweck und die Intention dahinter zugleich offen und verschlossen hält. Der Titel weckt Interesse, sich des Projekts anzunehmen. 


Der Erklärung der Installation bedarf es wenig Überlegung, wenn man sich diese einmal ansieht. Ein vier Meter langes Plexiglasgerüst, gerahmt durch Holz. Das Gerüst beinhaltet Tausende kleiner, passgenauer Fächer, in denen je ein Holzklotz steckt. Diese hölzernen Quader, 6.000 an der Zahl, lassen sich hineinschieben und sowohl von der einen als auch von der anderen Seite wieder herausziehen. 


Glas und Holz – recht unscheinbare Materialien, nichts Besonderes, möchte man meinen. Und doch ist es vielleicht diese Einfachheit des Mediums, die hier wichtig ist. Etwas, das so alltäglich scheint. Etwas, das in seinem Aussehen nicht sofort ins Auge sticht, seinen signifikanten Sinn und Charakter aber ganz offen trägt und ausstellt. Man muss sich dann doch einmal die Zeit nehmen und zur „Wand“ hingehen, um das zu erkennen.


„War nun Buchenwald oder war die gewöhnliche Welt – das, was wir das normale Leben nennen – schief?“ – Jaques Lusseyran


Eine Wand meint eigentlich etwas Trennendes, das Unterbrechen der freien Sicht. Sie versteckt etwas. Sie wirkt abgeschlossen und, gibt es keine Tür oder ein Fenster, ebenso undurchdringlich. Was wäre nun aber, wenn es gar nicht eine Tür ist, sondern gleich 6.000 kleine Türen und Fenster, die sie durchdringbar machen? Und was wäre, wenn man diese scheinbar feste Wand zum Auflösen bewegen würde? Nicht durch gewaltsame Krafteinwirkung, nicht durch zerstörerischen Trieb, sondern ganz im Gegenteil, durch Bedachtheit und Ruhe, durch Zeit und Fürsorge?


Dann lässt man die Wand in ihrer physischen Erscheinung verschwinden, trägt ihre Essenz aber mit sich, womöglich nachhause, vielleicht auch in die Welt. Man überwindet die Grenze des Undurchdringlichseins und durchbricht den Trennungscharakter. Und dennoch schwächt man sie nicht, greift sie nicht an oder macht sie klein. Die nunmehr leere, verschwundene Wand ist größer geworden, bedeutender, stärker. Sie hat sich verbreitet. Die Wand trennt jetzt nicht mehr, sie verbindet. Nicht physisch, nicht sichtbar. Ihre kleinen „Türen und Fenster“ verbinden viel größere Distanzen.


„So habe ich auch im Lager mich bemüht, in allem – das ist der Maßstab – ein Mensch zu sein, ein Mensch.“ – Eugen Kogon


Das, was die „Wand“ zu einer nicht alltäglichen Wand macht, der Grund, warum sie überhaupt so leicht verschwinden kann, lässt sich in ihrem Aufbau und Konzept erkennen. Einfach mag es erscheinen, und trotzdem steckt eine Raffinesse dahinter, die bemerkenswerter nicht sein könnte: 6.000 Holzquader, die bereits erwähnten „Türen“, beinhalten jeder für sich eine Botschaft, eingraviert in die glatte Oberfläche. 


„Ich bin hier, damit ihr versteht.“ – Marian Wach


Das Konzept der Verschwindenden Wand gestaltet sich als interaktive Installation, wobei der Besucher der „Türenöffner“ ist. Die Blöcke werden herausgezogen, durchgelesen; man wird nachdenklich, ist vielleicht berührt, fühlt sich angesprochen, sieht Parallelen für sich und sein Leben, sein Umfeld. Der Besucher der Wand ist dazu aufgerufen, die Botschaft(en), die er ausgewählt hat, mitzunehmen. Sobald der Mensch also einen Holzklotz herauszieht, öffnet er eine der kleinen Türen. Rechnet man eins und eins zusammen, lässt sich schnell erkennen, warum unsere scheinbar undurchdringliche Wand nun „verschwindet“, sowie alle Holzklötze nach und nach mitgenommen werden und einzig das transparente Glas im Holzrahmen übrigbleibt.


Das Gerüst mit dem einfachen, alltäglichen Material verliert damit für sich selbst auch seinen Charakter und Zweck, schließlich ist es ja „verschwunden“. Wobei – es verliert seinen Charakter ja nicht, es lässt ihn eher frei, entlässt ihn in die Welt zusammen mit dem Menschen, der das Zitat mit sich nimmt. „Botschaften, die bleiben“, heißt es. Die Antithese des Titels zeigt ihren Sinn. Ob der Holzquader nun ein Zimmer schmückt, in einer Kiste verschwindet und später wiederentdeckt wird, ob er eine weite Heimreise antritt oder den Besitzer wechselt, spielt dabei keine Rolle. Die Botschaft wird weitergetragen und verbreitet sich so. Sie „bleibt“.


„Mag sein, dass der jüngste Tag morgen anbricht, dann wollen wir gern die Arbeit für eine bessere Zukunft aus der Hand legen, vorher aber nicht.“ – Bruno Bettelheim


Zurück geht die Installation auf die Idee einer russischen Studentin, Maria Jablonina, in Zusammenarbeit mit dem Architekten Werner Sobek während eines Workshops vor einigen Jahren. Initiator war das Goethe-Institut. In annähernd 100 verschiedenen Ländern vertreten, fördert es unter anderem die Kenntnis der deutschen Sprache und pflegt eine kulturelle Zusammenarbeit auf internationaler Ebene. So ist es nicht verwunderlich, dass eine Installation im öffentlichen Raum über Jahre in verschiedensten Städten gastierte – angefangen 2013 anlässlich des 72. Jahrestags des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion in Moskau bis 2015 zum deutsch-israelischen Jahr, etwa in Jerusalem und Tel Aviv; 2020 als Teil des Kulturprogramms der Bundesregierung zur deutschen EU-Ratspräsidentschaft, wobei die Wand 16 europäische Städte bereiste – von Irland bis Griechenland, von Spanien bis Litauen; eine erinnerungspolitisch äußerst signifikante Reise.


In dieser bisherigen Wirkungsgeschichte waren es Zitate der europäischen Hoch- und Popkultur, von Künstlern, Musikern, Schriftstellern, Denkern. Jeweils in ihrer Originalsprache verfasst, vermitteln die Holzklötze persönliche Botschaften, ganz unmittelbar und authentisch. So erinnert die Installation im Großen und Ganzen an die sprachliche, ebenso gedankliche Vielfalt, wie Europa sie pflegt. All diese Zitate und Sprüche wurden vorher in einem europaweiten Wettbewerb gesammelt und letztendlich ausgewählt. 


Dieses Jahr durften wir ein doppeltes Novum mit der „Verschwindenden Wand“ erleben, hervorgegangen aus der Kooperation von Goethe-Institut und der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Nicht nur die Tatsache, dass sie auf dem Weimarer Theaterplatz ein erstes Mal deutschen Boden schmückte, sie wurde anlässlich des 76. Jahrestags der Befreiung der beiden Konzentrationslager mit Holzquadern bestückt, die allesamt ausgewählte Zitate von insgesamt 98 Überlebenden besagter KZs tragen. 163 sind es insgesamt, ganz persönliche Worte – von ehemaligen Häftlingen an eine heute freie(re) Welt, an eine Gesellschaft, die kaum noch direkten Bezug zu den Grauen des Nationalsozialismus hat. Die Botschaften sind auch als solche aufzufassen. Sie appellieren, sie mahnen, sie machen aufmerksam, kritisieren, alles teils versteckt hinter der Worthülle – sie verurteilen den Leser aber nicht. Die Worte versichern sich nur der Aufmerksamkeit, die sie brauchen und bemühen sich darum, Wiederholungstaten und -geschichten präventiv auszuschließen. Und dann berühren sie, lassen einen kalten Schauer über den Rücken laufen.


„Soll ich mich (bei Gott) dafür bedanken, dass meine Frau, meine beiden Kinder, meine Eltern und Geschwister vergast wurden und er mich am Leben lässt?“ – Fischel Libermann


Man liest diese Worte und hört sie alsbald im Kopf. Die eigene Stimme beginnt, die Botschaft des Überlebenden gedanklich auszusprechen, adaptiert sie. Die „Botschaften bleiben“ somit im Kopf. Und überall dort, wohin man sie trägt. Die Stimmen der Überlebenden Buchenwalds und Doras lassen sich nieder, wohin auch immer man den Quader stellt. 98 ehemalige Häft-linge erheben ihre Stimme, auch wenn sie teils schon lang keinen Ton mehr sprechen kön-nen. Erst kürzlich mussten wir uns von einem der Gedenkstätte Buchenwald sehr verbunde-nen Zeitzeugen verabschieden und doch hallen seine Worte nach: 


„Dass die Erinnerung an Buchenwald im Leben der Völker wachgehalten wird, sind wir allen Opfern des Faschismus schuldig.“ – Günter Pappenheim


Und die, die übrig sind, konnten zum Gedenktag 2021 wie auch schon 2020 nicht anreisen. Konnten nicht mit den Kameraden vor der Gedenkplatte stehen, Arm in Arm, selbst ein Drei-vierteljahrhundert später noch Gedanken denen widmen, die die vermeintliche Freiheit nie mehr erleben sollten. Niemand von ihnen konnte in diesen Jahren unmittelbar seine Botschaft aussprechen und weitergeben. Umso mehr Bedeutung kommt nun der Wand zu, die in die-sem Aspekt noch verbindender als trennend wirkt – die Holzquader sind im wahrsten Sinne des Wortes greifbar. Auch wenn die Überlebenden nicht direkt anwesend waren, so sind es doch ihre Botschaften. Meiner Meinung nach (und übrigens auch die vieler Besucher:innen der „Verschwindenden Wand“) macht es die Nachrichten der ehemaligen Häftlinge gerade jetzt noch viel nahbarer. So kommen die Überlebenden doch nach Weimar und Buchenwald. Die Installation ist aber noch viel symbolkräftiger: So wie die Holzklötze mit den Botschaften das Glasgerüst verlassen und die „Wand“ immer leerer wird, so verlassen auch die Überle-benden mit der Zeit nach und nach diese Welt. Die „Wand verschwindet“, die Menschen ver-schwinden – doch „die Botschaften bleiben“. Ein schöner, aber auch trauriger Gedanke.


„Denn immer wieder hörten wir von den Sterbenden: ,Vergesst uns nicht. Seid unsere Zeugen!‘“ – Danuta Brzosko-Mędryk


„Einige müssen an Stelle derer sprechen, die nicht wiedergekommen sind und die niemals wieder ihren Mund auftun werden.“
– Aimé Bonifas

Gemeinsam mit den freien Mitarbeiter:innen war es Aufgabe der Freiwilligen, die Installation am 11. und 12. April zu betreuen und mögliche Fragen der Besucherschaft über das Projekt und seinen Hintergrund zu beantworten. Da merkte man besonders, wie es den Menschen fehlt, in direkten Austausch zu kommen; dass viele ein ungemeines Mitteilungsbedürfnis hatten, als sie sich in diesem offenen Diskussionsraum wiederfanden. Viele Menschen stellten Fragen. Sie lobten und trugen ihre Freude darüber nach außen. Die Wand erhielt überhaupt eine überwältigende Resonanz – Menschen waren extra aus verschiedensten Städten angereist, um sich einen Holzquader mitzunehmen. Andere wählten Klötze für Verwandte und Bekannte. Ein Mann wollte seinen sechs jüdischen Freunden je eine Botschaft mitbringen. Eine Frau erzählte über vergangene Gedenkveranstaltungen, als noch alles „normal“ war, und lobte die Qualität der Idee hinter der Wand. 


Die Menschen verweilten mal kürzer, mal länger; sie versprachen, später wiederzukommen, wenn sie mehr Zeit hätten oder telefonierten mit den Kindern und Enkeln, um davon zu berichten. Einige erzählten über persönliche Erfahrungen und Familiengeschichten in Zusammenhang mit dem NS und Buchenwald. Viele fotografierten die menschenbevölkerte Wand, die auch in diesem Aspekt begonnen hatte, zu verbinden und nicht zu trennen.


„Dass man sich gegenseitig respektiert, dass man Verantwortung für den anderen hat – das ist Zivilisation.“ – Stéphane Hessel 


Selbst in solchen Zeiten lässt sich glücklicherweise an derartigen Orten doch noch ein wenig Zivilisation entdecken. 


Etwas, das uns berührte, war die Eigeninitiative der Besucher:innen der „Verschwindenden Wand“. Kaum hatte jemand am 11. April eine einsame Rose in ein leeres Fach der Wand gesteckt, füllten sich am folgenden Tag allmählich weitere Fächer, aus denen man Holzklötze gezogen hatte, mit Blumen. Ein Paar hatte sich der Installation mit einem Strauß gelber Gerbera genährt und diese in die Wand gesteckt. Eine Frau mit verpacktem Blumenstrauß hielt extra an, um aus ihrem Gesteck eine einzelne Blume abzutrennen und ebenfalls zwischen den Botschaften einzureihen. Auch Tulpen und Rosen begannen dort zu blühen. An die Stelle der Wand war zum Schluss nun also nicht ein „Nichts“ getreten, sondern vielmehr eine würdigende Blumenwiese. 


„Ich träumte, dass ich noch einmal auf einer Wiese spazieren gehen werde, ohne dass ein Wachmann hinter mir gehen wird.“ – Salomon Finkelstein


So alltäglich wie das Material sind die Botschaften gewiss nicht, einfach weil nicht jeden Tag ein Überlebender eines Konzentrationslagers vor der Tür steht und sie niederpredigt. Es sind „Botschaften, die bleiben“, weil sie mit ihrem Hintergrund einen Nerv treffen, der heute in vielen Dingen wieder Aktualität erfährt. Manche der Zitate mögen bereits vor Jahrzehnten entstanden sein und doch sind sie keinesfalls alt geworden: 


Man könnte meinen, die Geschichte des Lagers sei damit beendet. Das ist sie nicht.


Keineswegs dürfen wir uns mit dem Zustand, in dem wir leben, zufriedengeben.


Es ist einfach zu sagen „nie wieder“, aber leider ist es wieder passiert und vielleicht passiert es in genau diesem Moment.


– Ivan Ivanji, Stephen Benjamin Jacobs und Yves Béon.


Sophia

 
 
 
Die "Verschwindende Wand" auf dem Theaterplatz in Weimar:


Bild


Foto: Darko Velazquez