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Der 19. April – mit Worten, die bis heute nachhallen

Überlebende kommen zusammen, sie gedenken ihrer verstorbenen Mithäftlinge und Familienangehörigen, es werden Reden verlesen, Forderungen nach Frieden und Freiheit aufgestellt, der Appellplatz mit Kränzen geschmückt, das Buchenwald-Lied gespielt. So laufen zumeist die Jahrestage der Befreiung ab, die die Gedenkstätte Buchenwald jedes Jahr am 11. April begeht. Ganz ähnlich gestaltete sich auch die allererste Gedenkfeier für das ehemalige Konzentrationslager Buchenwald. Sie fand heute, am 19. April, vor 76 Jahren statt. 


Damals waren aber keine Gedenkstättenmitarbeiter, Politiker und Künstler die Organisatoren, sondern die Überlebenden selbst. Die befreiten Häftlinge versammelten sich am 19. April 1945 auf dem Appellplatz zu einem letzten Ehrenappell. Acht Tage nach der Ankunft der Amerikaner gedachten sie gemeinsam ihren Kameraden, die im Konzentrationslager umgekommen waren. 


1945 war Buchenwald befreit, die amerikanische Armee hatte die SS vertrieben und das Lager unter ihre Kontrolle gebracht. Die Häftlinge waren keine Häftlinge mehr, sie waren Befreite, Überlebende. Die Naziherrschaft war vorüber, das „Dritte Reich“ in sich zusammengebrochen. Ungefähr einen Monat später sollte auch der 2. Weltkrieg enden. Das, was die Amerikaner sahen, war aber nicht vorwiegend Freude und Erleichterung – vor ihnen erstreckte sich das Leid des Konzentrationslagers, der Beweis dessen, was Menschen anderen Menschen antun können. Das Lager war befreit, aber vor dem 11. April standen sieben Jahre Not und Terror. Den 21.000 Überlebenden standen 56.000 Tote gegenüber. 


Zunächst lag die Leitung des Lagers in den Händen des Internationalen Lagerkomitees, der inneren kommunistischen Widerstandsvereinigung. Am 13. April übernahmen die Amerikaner die Verwaltung. Aber auch danach halfen Kommissionen des ILK und ein internationaler Lagerrat bei der Versorgung und Organisation des Lagers. Im Auftrag des Lagerkomitees begann eine Gruppe aus niederländischen, tschechischen, polnischen und ungarischen Überlebenden, darunter auch viele jüdische, die Vorbereitungen zur ersten Gedenkfeier für Buchenwald. Die Kommission zur Planung führte Henri Pieck – ein ehemaliger Buchenwald-Häftling, der während der Lagerzeit sein künstlerisches Talent dafür nutzte, das Elend in Buchenwald festzuhalten. Er skizzierte den Lageralltag und fertigte Bildnisse seiner Mithäftlinge an – beeindruckende Dokumente des Leids und Erinnerungen an die Menschen, die in Buchenwald lebten und starben. 


Erinnerung, Würdigung – unter diesem Zeichen stand auch der 19. April. Für die Gedenkfeier wurde ein hölzerner Obelisk errichtet und mit Tannenkränzen geschmückt, ein Mahnmal für die Toten des Lagers. Er trug die Aufschrift „K.L.B. 51.000“. Fälschlicherweise ging man damals noch von 51.000 toten Häftlingen aus. Die später ermittelte Zahl rechnete leider noch 5.000 dazu. Die Überlebenden versammelten sich an diesem 19. April auf dem Appellplatz – die Flaggen ihrer Nationen tragend, mit dem Obelisken in ihrer Mitte. Die Lagerkappelle spielte Trauermusik und es wurde ein Gelöbnis in mehreren Sprachen verlesen – der „Schwur von Buchenwald“. 


Die ehemaligen Häftlinge versprachen sich selbst und der Welt, den Nationalsozialismus zu bekämpfen. Sie schworen, für Frieden und Gerechtigkeit einzustehen, um eine bessere Welt zu schaffen, in der Buchenwald – in der das, was ihnen widerfahren war – nicht wieder geschehen kann. „Das sind wir unseren gemordeten Kameraden, ihren Angehörigen schuldig“, erklärten sie. 


Auf der einen Seite wurde der Blick also zurückgewandt, auf alle Buchenwald-Häftlinge, die den 19. April nicht miterleben konnten. Anderseits schauten die Überlebenden in die Zukunft, entwarfen in ihrem Gelöbnis eine neue Weltordnung. Sie forderten auf: „Als Zeichen Eurer Bereitschaft für diesen Kampf erhebt Eure Hand“.  So erklangen auf dem Appellplatz die Worte „Wir schwören!“. 


Am 20. April 1945 schrieb auch die Lagerzeitung über die Totenfeier. In den „Buchenwalder Nachrichten“ wurde der Schwur vollständig abgedruckt. „Zum Aushändigen in den Blöcken“ stand darauf. 


Der Schwur von Buchenwald ist für viele Überlebende verbindlich geblieben und zum Ideal ihres Handelns geworden. Gleichzeitig steht er für die zunehmende Dominanz des kommunistischen Weltbilds in der Geschichtserinnerung. In der Originalfassung schwören die ehemaligen Häftlinge noch: „Die endgültige Zerschmetterung des Nazismus ist unsere Losung.“ Daraus wurde einige Tage später im Sinne der Kommunisten „die endgültige Vernichtung des Faschismus mit seinen Wurzeln“. Dabei wird nun der Klassenkampf gegen den Kapitalismus und der Aufbau einer kommunistischen Herrschaft propagiert – erste Tendenzen der Instrumentalisierung von Buchenwald für die politischen Ziele der Antifaschisten. 


1960 erschien in der DDR zum Jahrestag der Befreiung ein Zeitungsartikel mit der Schlagzeile „DDR erfüllte Schwur von Buchenwald.“ In den Augen der DDR war der sozialistische Staat die einzig logische Schlussfolgerung aus der Nazi-Diktatur. Die Antifaschisten von Buchenwald und ihr erfolgreicher Kampf gegen den Nationalsozialismus waren Legitimationsgrundlage für die SED-Führung. In der DDR-Geschichtserzählung vollendete die kommunistische Herrschaft den Widerstandskampf und den Schwur von Buchenwald. Der ostdeutsche Staat verfolgte damit eine einseitige und politisierte Erinnerungskultur. 


Trotzdem ist das Versprechen, das am 19. April 1945 auf dem Appellplatz verkündet wurde, heute noch relevant. „Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“ Ein Ziel, das immer aktuell bleibt, auch in einer freien Gesellschaft wie Deutschland. Unsere Demokratie ist nichts Selbstverständliches. Kaum eine Landesgeschichte zeigt das so eindrücklich wie die Deutschlands. 


Die Bundesrepublik ist aus dem Ende des Nationalsozialismus hervorgegangen. Die neue demokratische Ordnung in Westdeutschland und später im vereinten Deutschland war die Antwort auf die Verbrechen der Nazis. Deren Aufarbeitung hat jedoch viele Jahrzehnte gedauert. Die Verantwortung für die NS-Geschichte bleibt verwoben mit diesem Land. Sie ist quasi Teil der deutschen DNA. 


Gerade an Gedenktagen wie dem 11. April hört man immer wieder die Aufforderung, man dürfe die Vergangenheit nicht in Vergessenheit geraten lassen, man müsse gedenken, man müsse erinnern. Was ist das aber eigentlich – Erinnerung? Wir, die heutigen Generationen, können uns eigentlich gar nicht erinnern. Schließlich kann man sich an nichts erinnern, was man nicht selbst erlebt hat. Die Erinnerung im engsten Sinne des Wortes, die steht eigentlich nur den Überlebenden zu. Und trotzdem sprechen wir von Erinnerungskultur. Was meinen wir damit? Erinnern, das bedeutet in diesem Zusammenhang sicher vieles. Den Opfern gedenken und die Verbrechen aufzeigen, die von diesem Land ausgingen und von einem Großteil der deutschen Bevölkerung mitgetragen wurden. Anerkennung aber auch der Aufträge, die uns diese Geschichte gibt – zu fragen, zu wissen, zu verstehen, zu lehren.


Erinnerung an die Opfer und Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus sollte immer angefüllt werden mit Wissen. Sie darf kein Ritual aus allgemeinen Formeln für Menschlichkeit und Demokratie sein, die sich völlig vom Kontext der konkreten Geschichte ablösen. Erinnern darf man sich nicht nur zur Selbstvergewisserung, um moralisch überlegen sagen zu können, wie viel besser heute alles ist.  Letztendlich – Erinnerung nicht nur um ihrer selbst willen, nicht nur, weil es gut klingt. Erinnerung sollte immer eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte einschließen. Auf Forschung, auf Wissen und Reflexion sollte sie basieren statt auf abstraktem Pathos und großen, aber leeren Worten. 


Das hat sich die Gedenkstätte zum Ziel gemacht. Natürlich gibt es trotzdem, gerade am Jahrestag der Befreiung, symbolische Gedenkakte und auch die haben ihre Wichtigkeit. So fand am 11. April 2021 eine Kranzniederlegung auf dem Appellplatz statt. Genau da, wo vor 76 Jahren die erste Gedenkfeier für Buchenwald abgehalten wurde. Heute befindet sich dort auf dem Appellplatz ein Denkmal. Kein monumentales, sondern ein auf den ersten Blick eher unscheinbares. An der Stelle des Obelisken ist eine Metallplatte eingelassen worden. Diagonalen laufen auf ein Quadrat zu, die Spitze des Obelisken aus Vogelperspektive nachahmend. Darin stehen in alphabetischer Reihenfolge die Nationen und Gruppen, die in Buchenwald Opfer zu beklagen haben. In das Denkmal eingraviert ist das Akronym K.L.B.: Konzentrationslager Buchenwald. 


Die Gedenkplatte ist auf 37 Grad erhitzt – die Körpertemperatur des Menschen. Religionszugehörigkeit, Nationalität oder Ethnie waren Gründe, warum Menschen in Buchenwald inhaftiert waren, warum sie dort ermordet wurden. Das waren die Dinge, die sie unterschieden, mit denen sie die Nationalsozialisten stigmatisieren und entzweien wollten. Was sie verband waren eben diese 37 Grad – ihre unanfechtbare, natürliche Menschlichkeit. 


Jean Améry, österreichischer Buchenwald-Überlebender, sagte über die Gedenkfeier am 19. April: „Für eine knappe Weltstunde durfte man glauben, alles sei von Grund auf verwandelt.“ Leider dauerte es noch einige Zeit, bis sich Deutschland wirklich verwandelte. Die Anwesenden auf dem Buchenwalder Appellplatz machten am 19. April 1945 aber einen Anfang. 


Franka




Befreite Häftlinge bei der Gedenkfeier für die Toten des KZ Buchenwald 
auf dem Appellplatz am 19. April 1945
Foto: Donald R. Ornitz, U.S. Signal Corps. National Archives Washington 



Schwur von Buchenwald, abgedruckt in der Lagerzeitung vom 20. April 1945
 


Denkmal für alle Häftlinge des KZ Buchenwald auf dem Appellplatz
Foto: Naomi Tereza Salmon