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Der 11. April 2021 – Schnelltest, Kordel und Gedenken 


Für die Freiwilligen an der Gedenkstätte Buchenwald gibt es im Jahr ein ganz besonderes – Highlight wäre kein allzu passender Begriff –, einen ganz besonderen Tag. Den 11. April, den Jahrestag der Befreiung. An diesem Datum reisen Überlebende aus der ganzen Welt nach Buchenwald. Sie tauschen sich untereinander aus, erzählen ihre Geschichten, werden von den GedenkstättenmitarbeiterInnen und Freiwilligen begleitet. Eine große Gedenkfeier findet auf dem Appellplatz statt, zu der auch jedes Jahr viele Besucher von außen kommen. Hände schütteln, Gespräche führen, zusammensitzen. Das war in diesem Jahr jedoch nicht in der altbekannten Form möglich. Die Pandemie hat alles verändert, auch die Gedenkstättenarbeit und den Jahrestag. Alles anders und trotzdem besonders – so haben zumindest wir Freiwilligen den 11. April erlebt. 


Unser Tag ging schon ganz anders los, als man meinen möchte – mit einem Corona-Test. Für alle Teilhabenden war das die Voraussetzung, um an den Feierlichkeiten im Deutschen Nationaltheater und auf dem Appellplatz teilzunehmen. Als wir, zum Glück, alle negativ in der Gedenkstätte ankamen, sahen wir den Besucherparkplatz so voll wie lang nicht mehr. Zum offiziellen Gedenkakt waren aus Hygienegründen keine Besucher zugelassen, zur Gedenkstätte hingezogen hat es viele an diesem Tag aber doch. 


Wir Freiwilligen fanden uns mit KollegInnen auf dem ehemaligen Appellplatz ein. Unsere Aufgabe: die Abkordelung des Bereiches, auf dem die Gedenkfeier stattfinden sollte. Dort sollte in ungefähr einer Stunde der Bundespräsident eintreffen, um mit weiteren Gästen die Kranzniederlegung zu begehen. So standen wir erstmal eine Zeit lang mit einer Kordel in der Hand und warteten auf den hohen Besuch. Begonnen hatte der Tag des Gedenkens nämlich schon etwas früher. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier weihte zunächst auf dem Theaterplatz die „Verschwindende Wand“ ein. Das ist eine Kunstinstallation, die aus 6.000 Holzklötzchen besteht. Auf jedem dieser Klötzchen steht das Zitat eines Überlebenden aus Buchenwald, Mittelbau-Dora und deren Außenlagern. Aber dazu später mehr.


Nach der Eröffnung begann der Gedenkakt im Deutschen Nationaltheater. In seiner Rede sagte Steinmeier: „Denn wer sich nicht mehr daran erinnert, was geschehen ist, der hat auch vergessen, was geschehen kann“. Ein wichtiger Gedanke. Denn was steht hinter den häufigen Mahnungen, dass sich die Verbrechen von damals nicht wiederholen dürfen? Das Wissen, dass sie sich jederzeit wiederholen können. Dass kein Land, keine Zeit ganz davor sicher ist. 


Ein Musikalisches Zwischenspiel bildete die Partitur „Unter freiem Himmel“, die der Buchenwald-Häftling Ondrej Volráb in Buchenwald 1944 abgeschlossen hatte. Auch die Überlebenden Éva Fahidi-Pusztai und Alex Hacker kamen während der Veranstaltung – zugeschaltet aus Budapest und Toronto – zu Wort. Hacker überlebte die Konzentrationslager Flossenbürg, Mittelbau-Dora und Bergen-Belsen. Seine „Nachricht an Hitler: Ich bin immer noch hier, du Bastard“ schrieb er in das Gästebuch der Gedenkstätte Mittelbau-Dora. Dieses Zitat stand auf einigen Klötzchen der Verschwindenden Wand – und war schnell vergriffen. 


Éva Fahidi-Pusztais Botschaft war auch in der Wand zu finden: „Das Beste, was ich unseren Enkelkindern wünschen kann, ist: dass sie sich ein angstloses Leben schaffen können.“ Der Bundespräsident hatte dieses Klötzchen bei seiner Einweihung gezogen. Die mittlerweile 95-jährige Frau wuchs in einer jüdischen Familie in Ungarn auf. Damals 18 Jahre, wurde sie mit ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester in ein Ghetto gesperrt und später nach Auschwitz deportiert. Ihre Mutter und Schwester wurden dort sofort ermordet. Sie wurde in das Außenlager Allendorf verbracht, wo sie Zwangsarbeit in der Sprengstoffindustrie leisten musste. 1945 wurde sie auf einem Todesmarsch von den Amerikanern befreit. Heute ist sie Ehrenbürgerin von Stadtallendorf – und Rednerin im Deutschen Nationaltheater. Auf der ganzen Welt, übertragen in sechs Sprachen, hörte man Éva Pusztais Worte: Das Wichtigste sei es, „dass man den Hass aus dem Gesellschaftsleben schafft.“ 


Kurz nach 13 Uhr kamen schließlich der Bundespräsident und seine Frau, Ministerpräsident Ramelow und Stiftungsdirektor Jens-Christian Wagner in Buchenwald an und schritten durch das Lagertor auf den Appellplatz. Schließlich begaben sie sich zusammen mit Weimarer Oberbürgermeister Peter Kleine, Landtagspräsidentin Birgit Keller und Verfassungsgerichtspräsident Stephan Harbarth zum Gedenkort für alle Opfer des Konzentrationslagers Buchenwald – die Gedenkplatte, die zu diesem Tag mit Kränzen geschmückt war, Flaggen der Opfernationen wehten dahinter. Nur ein paar Meter hinter den wichtigen Persönlichkeiten standen wir – die Freiwilligen – und konnten alles hautnah miterleben. 


Stiftungsleiter Prof. Dr. Wagner unterstrich in seiner Begrüßungsrede noch einmal, wie traurig es uns alle macht, dass eben nur diese Personen am 11. April auf dem ehemaligen Appellplatz von Buchenwald standen, die Überlebenden aber nicht anreisen konnten. Dabei hatten sie sich „so sehr gewünscht, mit uns ihrer toten Mithäftlinge zu gedenken“, sagte Wagner. Am schwersten ist es schließlich nicht für uns, sondern für die Überlebenden, an diesem für ihr Leben so zentralen Datum nicht in Buchenwald sein zu können. 


Eine Stimme bekamen sie natürlich trotzdem. So wandte sich der Buchenwald-Überlebende Naftali Fürst per Videobotschaft an die Menschen vor Ort und die Zuschauer, die im Live-Stream die Veranstaltung verfolgten. Der 13-jährige Naftali Fürst wurde zusammen mit seinem Bruder 1945 auf einen Todesmarsch von Auschwitz nach Buchenwald getrieben. Die beiden kamen in den Kinderblock. Naftali erlebte schwer krank die Befreiung, sein Bruder wurde auf einen weiteren Todesmarsch geschickt. Im Sommer 1945 trafen sich die Brüder wieder. 


Naftali Fürst wies in seiner Rede darauf hin, dass es immer weniger Überlebende gibt, die aus erster Hand von den damaligen Geschehnissen berichten können. Deshalb sei die Zeit gekommen, „die Fackel der Erinnerung unseren Kindern, Enkelkindern und Urenkelkindern zu übergeben.“ Er schloss mit einer Zeile aus dem Buchenwald-Lied: „O Buchenwald, ich kann dich nicht vergessen.“ Gleich darauf ist das Lied, das 1938 von zwei Buchenwald-Häftlingen geschrieben wurde, auf dem Appellplatz erklungen. 


Das war also der 76. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald. Anders als sich ihn alle gewünscht hatten und trotzdem würdevoll. Was bleibt nun von diesem Tag im April 2021, vom Jahrestag generell? Der 11. April ist ein Datum verschiedener, auch gegensätzlicher Emotionen. Ein Tag der Freude und Trauer. Für viele Häftlinge war der 11. April der Tag, an dem sie wieder zu freien Menschen wurden. Er bedeutet für sie Erlösung und Neuanfang. So sagte Zbigniew Mikolajczak, Dora-Überlebender: „Ich bin ein Thüringer, weil ich am 11. April 1945 auf dem Gelände des KZ-Mittelbau-Dora als Mensch wiedergeboren bin.“ Zäsur war der Tag sicher. Für viele Überlebende hat er aber auch eine kritischere Bedeutung, da ihr Leidensweg danach weiterging. Die eigene Befreiung, die psychologische, das Weitermachen und das Verarbeiten, das alles war ein längerer Prozess und kam nicht auf einmal mit der Befreiung der Amerikaner. Und darüber hinaus gibt es Tausende Häftlinge, die den 11. April 1945 nie erlebten. 


In den Medien wurde über die Veranstaltungen viel berichtet, der MDR brachte mehrere Beiträge und Sondersendungen, die Tagesschau informierte ebenfalls darüber. Auch in den sozialen Netzwerken wurde viel zu diesem Tag gesprochen und geteilt. Vor allem die Anwesenheit des Bundespräsidenten erzeugte hohe Aufmerksamkeit. Für die Gedenkstätte ist es gut, wenn Buchenwald in den Medien ist, wenn die Leute darüber ins Gespräch kommen, wenn Bewusstsein wächst. 


Gedenkstättenarbeit findet aber nicht nur an großen Daten statt, sondern jeden Tag. Immer wieder aufs Neue versucht sie, die Öffentlichkeit zu erreichen, Interesse für Buchenwald zu wecken. Nichts anderes tun wir schließlich auch mit unserem Blog. Es ist etwas Besonderes für uns, nicht nur an einem wichtigen Datum, nicht nur durch kurze Berichte in der Tagesschau, über Buchenwald nachzudenken und versuchen, es zu begreifen. Wir tun das jeden Tag, es ist zu unserem Alltag geworden. 


Kalt lässt das natürlich nie. Aber vielleicht ist es gerade für uns, für die MitarbeiterInnen der Gedenkstätte wichtig, mal innezuhalten, zwischen Terminen, Dokumenten und Deadlines und sich ganz auf den Ort zu besinnen, an dem man arbeitet. Das hat der Jahrestag zumindest für mich, für uns bedeutet. 


Sicher werden wir in den kommenden Jahren die Gedenkstätte noch oft zu diesem Anlass besuchen. Aber der erste Jahrestag, den man erlebt, der bleibt. Den 11. April 1945 wird die Welt nicht mehr vergessen, vergessen werden wir auch den 11. April 2021 nicht mehr.


Franka 



Die Kranzniederlegung auf dem ehemaligen Appellplatz am 11. April 2021:

 



Foto: Darko Velazquez

Foto: Darko Velazquez