Direkt zum Hauptbereich

Das Kleine Lager - Von Verstorbenen, Vergessenen
und Nobelpreisträgern


Elie Wiesel ist noch ein Kind, als er 1944 mit seiner Familie aus seinem Heimatland Ungarn nach Auschwitz deportiert wird. Seine Schwester und Mutter werden gleich nach der Ankunft ermordet, der Junge und sein Vater müssen Zwangsarbeit leisten. Zu dieser Zeit rückt die Rote Armee an der Ostfront immer näher. Deshalb räumt die SS das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz und schickt die Häftlinge auf sogenannten Evakuierungstransporten, vielmehr Todestransporte, in die Konzentrationslager im Reichsinneren. So auch Elie Wiesel und seinen Vater. Sie erreichen Buchenwald lebend, aber völlig erschöpft. Hunderte ihrer Mithäftlinge kommen tot im Lager an.  


Elie Wiesels Vater Shlomo ist mit den Kräften am Ende. Zusammen mit seinem Sohn wird er im Kleinen Lager untergebracht, wo die elenden Bedingungen seinen Zustand weiter verschlechtern. Vor den Augen seines Sohnes vegetiert er dahin. Das bringt den Jungen in schwere innere Konflikte. Er schreibt in seinen Erinnerungen: „Aber im selben Augenblick erwachte der Gedanke in mir: […] ‚Wenn ich dieses tote Gewicht loswürde, damit ich mit allen Kräften für mein eigenes Überleben kämpfen könnte und mich nur noch um mich zu kümmern brauchte.’ Und schon empfand ich Scham, Scham für das Leben, Scham um meinetwillen.“


Elie Wiesels Aufzeichnungen sind ein aufwühlender Einblick in die Gedanken, zu denen das Leben im Konzentrationslager den Menschen treiben kann. Der Kampf um das nackte Überleben wurde so ins Extreme gesteigert, dass der Junge sogar bereit war, den Vater aufzugeben, um sich selbst zu retten. Die Häftlinge in Konzentrationslagern waren zum Großteil keine Solidaritäts- und Leidensgemeinschaft. Die meisten waren auf sich allein gestellt. Oftmals war es ein Kampf aller gegen alle. Das Privileg, nach moralischen Grundsätzen zu handeln, sich für Freunde und Familie einzusetzen und die eigene Integrität zu bewahren, hatte die große Mehrheit der Häftlinge nicht. Es ging nur darum, genügend Brot zu finden, um den nächsten Tag zu erleben.


Davon zeugt auch der Rat eines Mithäftlings, den der junge Elie Wiesel im Lager bekam: „Vergiss nicht, dass du in einem Konzentrationslager bist. […] Hier gibt es weder Vater noch Bruder noch Freund. Hier lebt und stirbt jeder für sich. […] Gib deinem alten Vater keine Brot- oder Suppenration mehr. Für ihn kannst du nichts mehr tun. […] Du müsstest im Gegenteil auch seine Ration essen.“ Shlomo Wiesel starb kurz nach der Ankunft im Kleinen Lager. Elie Wiesel selbst überlebte die nächsten Wochen und wurde am 11. April 1945 zusammen mit 21.000 Häftlingen von den Amerikanern befreit. Er war gerade sechzehn Jahre alt.


So wie Elie Wiesels Vater starben Tausende in den letzten Monaten vor der Befreiung im Kleinen Lager. Es war eine der schlimmsten Todeszonen in Buchenwald. Das Kleine Lager, das zum Sterbe- und Siechenlager wurde, steht exemplarisch für die extremen sozialen Unterschiede zwischen den Häftlingen. Es zeigt außerdem das immer weiter eskalierende Chaos der letzten Kriegsmonate und die Gewalt, die sich dabei entfesselte. Wie wurde also das Kleine Lager zum „Elendsviertel“ von Buchenwald? Welche Bedeutung kommt ihm zu?


Wie im vorausgegangenen Artikel bereits erörtert, waren die Häftlinge im Lager nicht alle gleich. In der rassistischen Hierarchie der SS wurde jedem Häftling sein Platz zugeteilt, der festlegte, wie hoch seine Überlebenschancen standen, ob er eine Funktion im Lager erlangen könne und wie schlecht seine Lebensbedingungen waren. Die sozialen Unterschiede im Lager waren groß, die Häftlingsgesellschaft nach der NS-Ideologie durchklassifiziert. Der Alltag und die Lagerrealität unterschieden sich von Häftling zu Häftling oft stark. Brennpunkt dafür wurde das Kleine Lager.


Das Kleine Lager war eine von vielen Todeszonen, die sich vor allem in den letzten Kriegsjahren 1944/45 in den Konzentrationslagern bildeten. Die Zwangsarbeit wurde immer härter, die Transporte immer strapaziöser, der Vernichtungsdruck, der auf den Häftlingen lastete, immer größer. All die Belastungen und Gefahren des Lagers erreichten vor dem Hintergrund des sicher verlorenen Krieges, der zusammenbrechenden Fronten und der fanatischen Träume vom Endsieg ein neues Extrem. Die Todeszahlen steigerten sich in ungekannte Höhen.


Häftlinge, die zu erschöpft waren, um weiter für die größenwahnsinnigen Rüstungsprojekte der SS zu arbeiten, wurden entweder gezielt getötet oder in separate Sterbezonen abgeschoben und sich selbst überlassen. Auch die Menschen, die auf den Zugfahrten und Todesmärschen fast zu Tode gekommen waren, sammelte man dort. So kamen vor allem die entkräfteten, kranken und schwachen Häftlinge in das Kleine Lager in Buchenwald.

 

Bereits Ende 1942 richtete die SS eine Quarantänezone am nördlichen Rand des Häftlingslagers ein. Dort wurden die neu eingelieferten Häftlinge für ein paar Wochen untergebracht, bis sie in Außenlager weitergeschickt wurden. Vor allem mit den Räumungstransporten aus Auschwitz ab 1944 – mit denen auch Elie Wiesel kam – und anderen aufgelösten Lagern entwickelte sich das Kleine Lager zum Sterbeort. Die meisten Menschen, die hier eingesperrt wurden, waren Juden. Deshalb sprach man auch von „Judenlager“. 


Wie genau sah das Kleine Lager aus? Was unterschied es so grundlegend vom übrigen Lagerbereich? Das Kleine Lager, das waren zwölf Wehrmachtspferdeställe, die auf Lehmboden standen. Fenster hatten sie keine. Jede der Baracken war etwa vierzig Meter lang und zehn Meter breit. Eigentlich waren die Ställe für jeweils fünfzig Pferde vorgesehen. Die SS drängte in eine der primitiven Behausungen durchschnittlich 1.000 bis 2.000 Menschen. Betten gab es nicht, die Häftlinge mussten in regalähnlichen Boxen aus Holz schlafen. Als auch die Pferdeställe für die Massen an Menschen, die nach Buchenwald gebracht wurden, nicht mehr ausreichten, stellte die SS fünf große Militärzelte zur Unterbringung auf. Für alle Gefangenen des Kleinen Lagers gab es eine einzige Massenlatrine.


Die Zustände in den Baracken waren vor allem durch eines gekennzeichnet: Mangel. Es fehlte an Essen, an Wasser, an Kleidung, an Schüsseln und Löffeln, an Platz. Dreck und Gestank waren allgegenwärtig, Seuchen wie Ruhr und Tuberkulose breiteten sich rasend schnell aus. Das war das Bild von Buchenwald in den letzten Kriegsmonaten. In weniger als 100 Tagen bis zur Befreiung starben im Kleinen Lager noch mehr als 5.000 Menschen. Die SS führte dieses Massensterben durch gezielte Vernachlässigung herbei. Sie ermordete aber auch selbst Häftlinge durch Injektionen im sogenannten Todesblock, Block 61 des Kleinen Lagers.


Als die amerikanische Front immer näher rückte und die SS immer unruhiger wurde, bereitete die kommunistische Widerstandsorganisation des Lagers eine Revolte vor. Über geheime Radiostationen konnte sie das Kriegsgeschehen verfolgen und über einflussreiche Häftlingspositionen und Kontakte zu Zivilarbeitern Waffen organisieren. Das Kleine Lager war von diesem Lagergeschehen fast vollständig abgeschnitten (übrigens auch räumlich – von Stacheldraht umgeben, durften die Gefangenen das Kleine Lager nicht verlassen). Selbstbehauptung und aktiver Kampf gegen die SS waren im Kleinen Lager noch einmal deutlich schwieriger als im Hauptlager. Widerstand hat es auch hier gegeben. Bei den meisten Häftlingen, unterernährt, krank und geschwächt, reichte die Kraft dafür aber einfach nicht aus.


Als immer klarer wurde, dass die Amerikaner den Ettersberg bald erreichen würden, begann die SS Todestransporte zusammenzustellen. Tausende von Häftlingen, viele davon aus dem Kleinen Lager, wurden aus dem KZ getrieben – zu Fuß oder in offenen Güterzügen. Häftlingskolonnen aus den geräumten Konzentrationslagern zogen in den letzten Kriegswochen durch ganz Deutschland. Dabei kam es zu einer letzten Entfesselung des Terrors. Wer nicht mehr weiterlaufen konnte, wurde niedergeschossen. Wer von einem Transport floh, wurde gejagt und ermordet – mit bereitwilliger Unterstützung der Bevölkerung. An den Massakern in der Endphase des verlorenen Krieges beteiligten sich Hitlerjungen, Volkssturmmänner, die örtliche Polizei und einfache deutsche Bürger. Nur wenige halfen den Häftlingen.


Die Häftlinge, die im Lager Buchenwald zurückblieben, erlebten die Ankunft der amerikanischen Armee. Die Gedenkstätte Buchenwald feiert den 11. April jedes Jahr als Jahrestag der Befreiung. Dieser Tag machte aus den Häftlingen des NS-Regimes wieder freie Menschen. Es ist ein Tag der Hoffnung, ohne Frage. Der 11. April bedeutete aber nicht für alle Häftlinge automatisch Erlösung.


Hunderte Menschen vor allem aus dem Kleinen, aber auch aus dem Hauptlager starben noch in den Tagen und Wochen nach der Befreiung. Für viele Menschen war es nur ein weiterer Tag im Überlebenskampf. Die körperliche Erholung und das Wiederfinden des Selbst geschahen nicht vom einen auf den anderen Tag. Die Jahre der Ausgrenzung, Verfolgung und Misshandlung blieben. Befreit davon wurden die Überlebenden nicht. Die meisten begleitete die Lagererfahrung ein Leben lang. Elie Wiesel hält über seinen Verlust, der ihm im Kleinen Lager widerfahren ist, fest: „Mein kranker Vater, der vor meinen Augen gequält und erniedrigt wurde. […] Er betrat die Dunkelheit, ohne eine Spur zu hinterlassen.“


Das Kleine Lager ist wie so viele Sterbelager aus der Radikalisierung des Krieges, der Eskalation der Gewalt und dem bis zum Schluss auf Hochtouren arbeitenden vernetzten System der Konzentrations- und Vernichtungslager entstanden. Es hat das Leben vieler Menschen für immer verändert. Elie Wiesel gehört dazu – er zeigt aber auch, dass Buchenwald nicht das einzige ist, was die Überlebenden definiert. Nach der Befreiung ging er nach Frankreich, studierte Philosophie, Literatur und Psychologie. Ab 1956 lebt er in den USA. Wiesel arbeitete als Journalist, als Berichterstatter für die UN und erlangte Ruhm als Schriftsteller. Unermüdlich engagierte er sich für die Aufarbeitung des Holocaust, für Frieden und Verständigung. Für sein Lebenswerk erhielt Elie Wiesel 1986 den Friedensnobelpreis. Er verstarb 2016 in New York City. 


In seiner Dankesrede erinnerte er sich an den kleinen Jungen, der damals nach Buchenwald kam: „Und jetzt wendet sich der Junge an mich: ‚Sag mir’, fragt er, ‚Was hast du mit meiner Zukunft gemacht? Was hast du mit deinem Leben gemacht?’ Und ich sage ihm, dass ich es versucht habe. Dass ich versucht habe, die Erinnerung am Leben zu erhalten, dass ich versucht habe, gegen diejenigen zu kämpfen, die vergessen. Denn wenn wir vergessen, sind wir schuldig, wir sind Komplizen. […] Wir müssen uns immer für eine Seite entscheiden. Neutralität hilft dem Unterdrücker, niemals dem Opfer. Schweigen ermutigt den Peiniger, niemals den Gepeinigten. Manchmal müssen wir eingreifen. […] Das ist es, was ich dem kleinen jüdischen Jungen sage, der sich fragt, was ich mit seinen Jahren gemacht habe.“

 

Franka 


 
Elie Wiesel


Elie Wiesel in einem Seminar mit Studierenden 
an der Boston University, 1982

Foto: Sammlung Boston University

 
 
Befreite Häftlinge in Baracke 56 im Kleinen Lager,
in der 2. Reihe, 7. v. l. Elie Wiesel
Foto: Harry Miller, U.S. Signal Corps, 16. April 1945. National Archives, Washington

 
Befreiter Häftling vor einer Holzbaracke im Kleinen Lager

Foto: Ardean R. Miller, U.S. Signal Corps, 18. April 1945. National Archives, Washington
 
 
Kleines Lager heute

Foto: Katharina Brand. Gedenkstätte Buchenwald