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Die Häftlingsgesellschaft – Nicht stumm, nicht blass, nicht gesichtslos


Der sechzehnjährige Kurt Ansin wird 1938 verhaftet und nach Buchenwald gebracht. Dort wird er als „asozial“ registriert, weil er ein Sinto ist. 


Der belgische Medizinstudent Robert Maistriau stoppt 1943 auf spektakuläre Weise einen Deportationszug nach Auschwitz. Ein Jahr später verschleppt man ihn nach Buchenwald. Bei der Befreiung wiegt er 39 Kilo. 

Robert Bardfeld besucht die Mittelschule in der Tschechoslowakei, als ein Lehrer aus Angst die Schüler bei der Gestapo anzeigt. Alle Jungen der 6. und 7. Klasse werden verhaftet. Als „Politischer“ kommt er nach Buchenwald. 


Wilhelm Pilotin war Soldat im Ersten Weltkrieg und hatte keine Berufsausbildung. Oft arbeitslos stiehlt er Fahrräder. Nach einer Verurteilung zu zehn Jahren Zuchthaus wird er als „Sicherungsverwahrter“ nach Buchenwald ausgeliefert. Man bezeichnet ihn auch als „Berufsverbrecher“.


Der Russe Faybusch Itzkewitsch verliebt sich in eine deutsche Frau und bekommt einen Sohn mit ihr. Von einem Nachbarn aufgrund seiner jüdischen Herkunft als „Rassenschänder“ denunziert, wird er in Buchenwald inhaftiert. 


Oskar Naagengast tritt 1933 der SA und der NSDAP bei. Er hat homosexuelle Beziehungen, erhält dafür eine Gefängnisstrafe, wird nach Buchenwald und schließlich nach Dora verbracht, wo er nur 19 Tage am Leben bleibt. 


Klara Löwy ist Jüdin und lebt mit ihrem Mann in Ungarn. Ihre Schwangerschaft kann sie während der Zwangsarbeit in einem Buchenwalder Außenlager nur kurz verbergen und wird darauf mit anderen Schwangeren in Auschwitz ermordet. 


Das sind acht Geschichten von Buchenwald-Häftlingen, acht Leben von insgesamt 280.000. An den Beispielen sieht man: Die Häftlingsgesellschaft war enorm vielfältig und differenziert. Menschen aus allen Altersklassen, aus verschiedenen Ländern, mit unterschiedlichen Religionen und politischen Überzeugungen waren in Buchenwald. Über die Jahre veränderte sich die Zusammensetzung der Häftlinge immer wieder. Während vor dem Krieg hauptsächlich deutsche und österreichische Menschen inhaftiert wurden, nahm der Anteil ausländischer Häftlinge aus den besetzten Ländern mit Kriegsbeginn deutlich zu.


Die vielen verschiedenen Menschen lebten im Konzentrationslager in einer Zwangsgemeinschaft. Die SS erschuf eine künstliche unfreiwillige Gesellschaft, die bestimmt war von rassistischen Kriterien, Konkurrenz und Überlebenskampf. Was für eine „Gesellschaft“ bildeten die Häftlinge? In welche Struktur presste sie die SS? 


Eine häufige Fehlannahme über Konzentrationslager ist die: Das Ziel der SS war es, die Häftlinge zu einer großen einheitlichen Masse zu formen. Das ist jedoch nur die halbe Wahrheit: Es stimmt, bei der Einlieferung mussten sich die Häftlinge einer Prozedur unterziehen, die sie erstmal äußerlich gleichmachte. Den Neuankömmlingen wurden alle persönlichen Gegenstände abgenommen, die sie mit sich führten – alles, was sie als soziale Wesen mit individueller Persönlichkeit ausmachte und eine Verbindung zu ihrer Vergangenheit als freie Menschen herstellte. 


Es wurden den Eingelieferten nun die Körper- und Kopfhaare geschoren. Das geschah meist mit schlechtem Werkzeug und führte zu Verletzungen. Darauf folgte die entwürdigende Desinfektion. Die Häftlinge mussten mit dem ganzen Körper in eine ätzende Desinfektionslösung eintauchen, durch die Wunden am Körper besonders qualvoll. Danach wurde die Zivilkleidung durch gestreifte Häftlingsanzüge ersetzt. 


Der Schädel kahl, die Kleidung eine Uniform, kein persönliches Hab und Gut. Die Häftlinge wurden so stark wie möglich ihrem früheren Aussehen entfremdet, ihre individuelle Geschichte ihnen geraubt. Das ganze Einlieferungsritual hatte den Zweck, den Menschen zum Häftling zu machen, ihn zu entmenschlichen. Den Neueingelieferten wurde sogar der Name genommen und mit einer anonymen Nummer ersetzt. Ihre Herkunft, ihr Leben und ihr Charakter wurden meist auf eine einzige Eigenschaft reduziert, die sie stigmatisieren sollte: „Jude“, „Homosexueller“, „Berufsverbrecher“. 


An dieser Stelle stößt man schon auf den ersten Widerspruch. Hier hörte die umfassende Vereinheitlichung der Menschen nämlich auf. Die SS bildete bewusst verschiedene Häftlingsgruppen, die sich aus den Haftkategorien oder der Nationalität ergaben. So waren die Gefangenen nur bis zu einem bestimmten Maß eine große homogene Masse. Innerhalb waren sie ganz klar gruppiert und klassifiziert. Die SS übertrug ihr Weltbild auf das Konzentrationslager. Sie bewertete die Menschen nach rassistischen Gesichtspunkten und stufte sie danach ab. So herrschte unter den Häftlingen eine Hierarchie. 


Ein paar Beispiele: Der Großteil politischer Häftlinge, vor allem Kommunisten, lebte im Lager unter etwas besseren Bedingungen als zum Beispiel Homosexuelle, Zeugen Jehovas oder Sinti und Roma. Diese mussten in den härtesten Arbeitskommandos schuften, hausten in den schlechtesten Unterkünften und waren besonders der Gewalt der SS ausgesetzt. Die Juden standen in der Hierarchie an unterster Stelle. Sie waren die Parias des Lagers, die Ausgestoßenen. Auf sie hatten es die Aufseher am meisten abgesehen und sie hatten die schlechtesten Chancen, das Lager zu überleben. Häftlinge aus nordischen Ländern, die von der SS mitunter noch als „arisch“ eingeordnet wurden, etwa Dänen oder Norweger, behandelte sie besser als Menschen aus Osteuropa. Vor allem Polen und Russen standen auf den niedrigsten Stufen im Lager und mussten die schlimmsten Misshandlungen ertragen. 


Diese Feststellung soll auf keinen Fall das Leid bestimmter Häftlinge relativieren oder Schicksale gegeneinander aufwiegen. Keiner der Menschen, die im Konzentrationslager eingesperrt waren, wollte dort sein. Sie alle wurden vom nationalsozialistischen Regime zu Opfern gemacht. Wichtig zu verstehen ist aber, dass die SS diese Gruppenbildung und Rangordnung bewusst einsetzte, um die Häftlinge gegeneinander aufzuhetzen, Neid und Feindschaft zu schüren. Die Täter wollten verhindern, dass sich eine solidarische Häftlingsgemeinschaft bildete. Sie erschufen eine Welt eklatanter sozialer Unterschiede, in der Privilegien, Einfluss, Nahrung, Kleidung und andere Gegenstände ungleich verteilt waren. Welche Überlebenschancen ein Häftling im Lager hatte, hing also ganz stark davon ab, an welcher Stelle in der Hierarchie des Leidens er sich wiederfand. Gelitten haben sie alle. 


Die SS konnte besonders mit dem rapiden Anwachsen des Lagers nicht alle Verwaltungs- und Organisationsaufgaben selbst übernehmen. Deshalb delegierte sie viele an sogenannte Funktionshäftlinge, die sie zum Beispiel in der Schreibstube, in der Arbeitsstatistik oder als Kapos eingesetzte. Das waren vor allem deutsche kommunistische und die als „kriminell“ ins Lager eingelieferten Häftlinge. Höhere Posten innerhalb des Lagersystems brachten ihnen bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen ein. Es machte beispielsweise schon einen großen Unterschied, ob ein Häftling draußen, allen Witterungen ausgesetzt, oder unter Dach arbeitete, ob er sich zum Abendessen zwei, statt der einen Suppenrationen organisieren konnte, ob er Freizeit hatte, ob er gerade im Winter eine Kleidungsschicht mehr am Körper trug, ob er bessere Schuhe besaß, in einem Steinblock und nicht in einer überfüllten Holzbaracke lebte und geschützter vor den Übergriffen der SS war. 


Besonders die Vergabe dieser Funktionsposten, die stark begehrt und hart umkämpft waren, erzeugte im Konzentrationslager ein Klassensystem. Benedikt Kautsky, Sozialdemokrat und Buchenwald-Häftling, spricht von einer „Aristokratie“, der Prominenz im Lager, die einen gewissen Einflussbereich und bessere Überlebenschancen hatte. Darauf folgte der Mittelstand, weniger privilegiert, aber immer noch höhergestellt als die große Masse – das waren die Häftlinge, die unter den schweren „Normalbedingungen“ des Lagers lebten und von denen viele starben. Die unterste soziale Klasse bildeten die sogenannten Muselmänner (die Herkunft der Bezeichnung ist nicht geklärt). Sie waren die Häftlinge, die dem Tode schon so nah waren, dass sie von ihren Kameraden nur als „lebende Leichen“ wahrgenommen wurden. Die SS hatte sie so zugrunde gerichtet, dass sie sich in einem grauenvollen Zwischenstadium von Leben und Tod bewegten. Sie konnten sich nur noch an ihren primitivsten Bedürfnissen festklammern: Essen, Schlafen. 


Aktive politische Widerstandskämpfer mit Handlungsspielraum und Muselmänner am Rande des Todes – das beides gehörte zum Lager. Und schloss sich nicht aus. Genau diese gravierenden Unterschiede wollte die SS herbeiführen – sie machten das System des Konzentrationslagers mit aus. 


Wie es in der Natur der Menschen liegt, blieben die verschiedenen Gruppen der Häftlinge meist unter sich. Natürlich war das von der SS provoziert – sie spielte die Häftlingsgruppe gegeneinander aus, trennte sie aber auch räumlich voneinander ab. So gab es Unterkünfte speziell für einzelne Nationen oder andere Kategorien wie Sinti und Roma oder sowjetische Kriegsgefangene. Gerade mit der „Internationalisierung“ des Lagers verhinderten schon allein die Sprachunterschiede eine große solidarische Häftlingsgemeinschaft. Der Gefangene hielt sich meist an die Mithäftlinge, die seine Sprache sprachen, mit denen er gemeinsam arbeitete oder in einem Block lebte. Der Kontakt zu einem einflussreichen politischen Häftling in einer Funktion war manchmal lebensrettend. So konnte der Einzelne einem besseren Arbeitskommando zugeteilt oder vor einem Vernichtungstransport geschützt werden. 


Unter den Häftlingen hat es Freundschaften gegeben, gegenseitige Unterstützung und Selbstlosigkeit. In einem Konzentrationslager, in dem der Häftling jeden Tag unter Lebensgefahr steht, war das aber nicht die Norm. Hauptsächlich konzentrierte sich jeder auf das eigene Überleben, der andere Häftling war Konkurrent, sogar Feind, statt Kamerad oder Leidensgenosse. Organisierte sich jemand mehr Brotrationen, bedeutete das weniger Essen für die anderen. Wurde ein Name auf einer Transportliste gestrichen, musste ein anderer darauf. Der Todesdruck, die Gewalt und Auszehrung zerstörten fast jedes soziale Leben. 


Das alles soll zeigen, wie widersprüchlich und vielschichtig die Welt des Lagers war. Spricht man über „Konzentrationslager“, den „Holocaust“, fordert man „Aufarbeitung“ und „Erinnerung“, so sind einem meistens diese vielen Details gar nicht bewusst. Man weiß gar nicht genau, wie so ein Konzentrationslager eigentlich systematisiert war, wie die Häftlinge lebten und starben. 


Es ist aber wichtig, das zu verstehen. Wir dürfen die Häftlinge heute nicht bloß als große Masse betrachten. „Die Häftlinge“ gibt es eigentlich gar nicht. Sie sind keine gesichtslose Einheit von Opfern, die alle das gleiche Schicksal erlitten haben. Sie haben genau das, was die SS ihnen verleugnet hat: Persönlichkeit und Individualität. Opfer sind sie, ja, aber keine stummen, keine blassen. Wir tun ihnen Unrecht, wenn wir sie nicht als Individuen sehen, sondern zusammenfassen und ihnen nur ein oberflächliches, diffuses Bedauern entgegenbringen. 


Die Menschen, die zu Häftlingen degradiert wurden, haben gefühlt, gedacht und gehandelt. Vor dem Einschnitt des Konzentrationslagers haben sie ein Leben gelebt, mit sich selbst, mit Freunden und Familie. Sie hatten verschiedene Werte, Ansichten und Erfahrungen. Sie besaßen ein Innenleben, eine Gefühlswelt, sowohl vor als auch im Konzentrationslager. Die SS versuchte, sie mit allen Mitteln zu entmenschlichen, sie in einen primitiven Naturzustand zurückzuzwingen. Jeder der Menschen blieb aber trotz allem seine eigene Person, hatte seine eigene Geschichte. 


Heute schauen wir mit großem Abstand, quasi von oben auf die Jahre, in denen das Konzentrationslager bestand. Wir teilen die Zeit in verschiedene Abschnitte ein, historisieren das Geschehene. Hin und wieder muss man sich deshalb vor Augen führen, dass es damals diese abstrakten Konzepte von Zeit, Geschichte und Erinnerung noch nicht gab. Jeder einzelne Häftling lebte im Konzentrationslager von einem Tag auf den nächsten. Er beschäftigte sich Stunde um Stunde mit den Dingen des Lagers, den Dingen des Überlebens: der Arbeit, der Kleidung, der Enge in den Blöcken, den Appellen, der Gewalt der SS. Ein Alltag in einer Grenzsituation, ein Alltag zwischen Leben und Tod. Viele Häftlinge durchlebten ihn, deren Namen wir vergessen haben. 


Sie alle haben versucht, irgendwie ihr Selbst zu bewahren, ihre Würde zu verteidigen. Viele sind trotzdem zugrunde gegangen. Einige haben mit der SS kollaboriert und aus Opfern sind Mittäter geworden. Manche haben den anderen geholfen, viele konnten das nicht. Sie alle haben um ihr Überleben gekämpft. Sie wurden in einen Ausnahmezustand versetzt und jeder einzelne hat ihn auf seine Weise erlebt. 


In Buchenwald wurden die Menschen zerstört, indem ihnen ihre Individualität genommen wurde. Die SS steckte sie in eine serielle Häftlingsgesellschaft aus Nummern und rassistischen Kategorien. Der Wert eines Menschen wurde mit der Winkelfarbe auf die Brust genäht. Die Häftlinge wurden in eine forcierte Gemeinschaft eingegliedert, in der die Normen einer Gemeinschaft nichts zählten, nichts zählen konnten. Ob es nun der jugendliche Sinto, der belgische Student oder die jüdische Mutter war. Ihre Geschichten bezeugen, was passieren kann, wenn die Gleichheit der Menschen verletzt wird … falls wir den Wert dieses Grundsatzes mal vergessen sollten. 


Franka 



Burgenländer Roma in Häftlingskleidung beim Appell, 1939/40
Foto: Erkennungsdienst KZ Buchenwald. United States Holocaust Memorial Museum, Washington

 

Häftlinge bei der Desinfektion auf dem Appellplatz, 1939
Foto:
Erkennungsdienst KZ Buchenwald. United States Holocaust Memorial Museum, Washington

 

 

Häftlingskleidung mit Winkeln in der Daueraustellung zur Geschichte 

des Konzentrationslagers Buchenwald
Foto:
Foto: Rosina Korschildge. Stifung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora

 

 

Kurt Ansin, mit 16 Jahren in Buchenwald
Das Farbfoto haben sogenannte "Zigeunerforscher" im Magdeburger Zwangslager für Sinti aufgenommen