Die Ehrliche Inschrift - Absurdität, Widerspruch
und Kontroverse
Ich beginne mit einer kurzen Frage: Was ist Buchenwald? Etwas
spezifischer: Was assoziiert man mit Buchenwald? Neben „Konzentrationslager“,
„Nationalsozialismus“ und „SS“ taucht ganz schnell ein Ausdruck auf: „Jedem das Seine“. Seltsam, was hat diese
harmlos klingende Phrase mit all dem zu tun?
Offensichtlich nicht viel, lassen die Worte doch auf den ersten Blick keinerlei
Verbindung mit dem Unrechtssystem des Konzentrationslagers anmuten. Oder doch?
„Jedem das Seine“ ist die verdrehte Rechtfertigung der Verbrechen des
Nationalsozialismus, wie sie in den Konzentrationslagern ihre größte und
schärfste Ausprägung fanden. Die Worte sind im
Kontext des KZ bestimmt von Widerspruch, Absurdität und grotesker
Instrumentalisierung. Als Lagertorinschrift in Buchenwald hatten sie den Rang
eines ideologischen „Mottos“, das den SS-Mann
lächeln, den Häftling leiden ließ.
Eine dieser Absurditäten, wie sie in Buchenwald keine
Seltenheit waren, verbirgt sich schon hinter der Entstehungsgeschichte des
Schriftzugs. Selbst die letzten Details im Lager oblagen den schwer-arbeitenden Händen der Häftlinge. Hier gehörte diese
Hand zu Franz Ehrlich. Die Typografie der
gusseisernen Inschrift im Lagertor entstammt seinem Entwurf – der Beigeschmack
der Worte wird dadurch nur noch bitterer. Die SS ließ es sich nicht nehmen, die
Häftlinge in doppelter Weise zu verhöhnen – nicht nur durch den Inhalt des Spruchs, sondern auch durch
seine Anfertigung. Der unanfechtbare Richtspruch über das eigene Leben, das
persönliche Todesurteil der Häftlinge musste von einem aus ihren Reihen, Franz
Ehrlich, entworfen werden – wie eine Botschaft von dem einen an die anderen
Häftlinge. Denn der Schriftzug war nur vom Häftlingsbereich aus zu lesen, ganz
bewusst von der SS so montiert. Aber wer war der Mann, dessen Buchstaben sich
so eingeprägt haben?
Franz Joseph Ehrlich wird 1907 in Leipzig geboren. Sein
künstlerisches Talent bleibt nicht lang unentdeckt: 1927 wird er Student am
Bauhaus Dessau. Paul Klee, Wassily Kandinsky, Joost Schmidt und Oskar Schlemmer
sind einige der Größen progressiver, in Deutschland ab 1933 als „entartet“
geltender Kunst des 20. Jahrhunderts, die Ehrlich zu seinen Lehrern zählt. Mit
Erhalt seines Bauhaus-Diploms 1930 folgt er Walter Gropius nach Berlin. Im
selben Jahr wird er Mitglied der KPD. Bald betätigt er sich als Mitherausgeber
der illegalen Zeitschrift „Junge Garde“, die sich gegen das 1933 neu gebildete
nationalsozialistische Regime richtet. So sind es unter anderem diese
Veröffentlichungen, die seine kurze Karriere beenden sollen: Verhaftet von der
Gestapo wird er 1935 zu drei Jahren Zuchthaus wegen „Vorbereitung zum
Hochverrat“ verurteilt.
1937 endet seine Zuchthausstrafe mit der Überstellung in das
Konzentrationslager Buchenwald, das im selben Jahr errichtet wurde. Nicht
selten enden Entlassungen und das Auslaufen von Gefängnisstrafen mit einer
unmittelbar anschließenden urteilslosen Haftstrafe in einem
Konzentrationslager. Die Deportation in das noch junge Buchenwald bestimmt bis
1939 sein Leben. Sein Talent als Architekt soll ihn retten – er wird
„arbeitsverpflichtet“ und erhält den Auftrag, Entwurfsarbeiten und
Bauzeichnungen für die SS anzufertigen. Darunter befinden sich unter anderem
Aufträge für die Innenausstattung des Wohnhauses von Lagerkommandant Koch –
nicht zuletzt aber seine wohl signifikanteste und gravierendste Arbeit: Der
typografische Entwurf des Schriftzugs „Jedem das Seine“, der fortan am
Lagertor, an der Schneise von Freiheit und
Ausgrenzung, prangen sollte.
1939 wird Franz Ehrlich zwar entlassen, seine Zeit in
Buchenwald soll jedoch nicht enden. Vom Wehrdienst ausgeschlossen, wird er
unter anderem im SS-Baubüro Buchenwald erneut arbeitsverpflichtet, liest seinen
eigens entworfenen Schriftzug nun aber von hinten. In Berlin wird er zudem Teil
des SS-Hauptamtes Haushalt und Bauten. Nach dem Krieg arbeitet er als Designer
und Architekt in Ostdeutschland. Nun SED-Mitglied, entwirft er unter anderem Inneneinrichtungen für viele ausländische
Botschaften der DDR, übernimmt die Bauleitung für Universitätsbauten,
Krankenhäuser, Konzert- und Museumsgebäude – Ehrlich macht Karriere. Ende 1980
eröffnet seine erste eigene Ausstellung „Franz Ehrlich – die frühen Jahre“ in
Leipzig. 1984 stirbt er schließlich nach einem bewegten Leben in Bernburg an
der Saale.
„Jedem das Seine“. Ein ähnlicher Dreiklang wie „Arbeit macht
frei“. Auf den ersten Blick haben beide Sentenzen wenig gemein außer der Kürze,
der Prägnanz. Ein elliptischer Satz und eine klare Parataxe. Ganz allgemein und
ohne Kontext schwer auf eine bestimmte Bedeutung zu beschränken. Wer ist
„jeder“? Und was ist „das Seine“, das ihm zusteht? Auf der anderen Seite:
Welche Arbeit? Und wovon befreit sie?
Wie eine irrsinnige, hämische Motivationsformel springen die
Buchstaben über dem Tor von Auschwitz den an, der durch seine Pforte getrieben
wird. „Arbeit“ am eigenen Zugrundegehen. Eine „Freiheit“, die nur im Tod
gefunden werden kann. Eine unfreiwillige Freiheit entgegen allem Menschlichem.
Eine aufgezwungene Freiheit. Der Häftling sah
die Aufschrift und wusste, was ihn erwarten würde. Drei Worte, die
unmissverständlich auf eine einzige Sache hinweisen. In Buchenwald war es
anders. Es gab keine Aufschrift, die sofort zu lesen war. Wenn die Häftlinge
nach harter Reise das Lager erreichten, war der Carachoweg einer der ersten und
prägendsten Abschnitte Buchenwalds. Sollte er bei
Verhaftung und Deportation noch nicht gemerkt haben, dass er nun offiziell aus
der „Volksgemeinschaft“ ausgegrenzt war und ihm damit jegliche menschliche
Würde abgesprochen wurde, so musste es dem Häftling spätestens unter den
Hieben, Tritten und Schreien der SS im Chor des aggressiven Hundegebells
klarwerden.
Er wurde weiter durch das Lagertor über den Appellplatz getrieben,
musste die entmenschlichende Aufnahmeprozedur durchmachen und schließlich zum
Appell antreten. Und dort war sie dann zu sehen – in roten, schmiedeeisernen
Buchstaben finalisierte die Inschrift die Stigmatisierung der
Gefangenen. Und sollte ein Häftling noch keinen Schlag auf dem Carachoweg
abbekommen haben, so bekam er ihn jetzt. „Jedem das Seine“ lautet die Formel,
das Urteil. Das Recht des Nationalsozialisten mit aller Brutalität jedem, der
die Inschrift tagtäglich sehen muss, ein menschenwürdiges Leben abzusprechen –
oder jegliches Leben.
Der Schriftsteller Karl Schnog verfasste dazu während seiner
Haft in Buchenwald ein Gedicht. Einige Verse zeigen eindringlich die Wucht der
drei Worte:
Die Herren haben wirklich Humor
In diesen bitteren Zeiten:
„JEDEM DAS SEINE“ steht höhnisch am Tor;
Durch das die Häftlinge schreiten.
In diesen bitteren Zeiten:
„JEDEM DAS SEINE“ steht höhnisch am Tor;
Durch das die Häftlinge schreiten.
Ein irrsinniger Humor muss das gewesen sein, wenn man die
ursprüngliche Bedeutung der Inschrift beleuchtet. Die Nationalsozialisten haben diese Worte nicht erfunden, nur
übernommen und weitergeführt. Allerdings wird 1938 nicht einfach nur eine 2000
Jahre alte Formel in ein Tor geschmiedet, sondern mit ihr eine ihrem Ursprung
gänzlich widersprechende Botschaft manifestiert. Der
klassische Gerechtigkeitsspruch findet sich schon
bei Platon, ebenso bei Cicero wieder. Hier spielte er vor allem auf Pflichten
des Bürgers gegenüber Staat und Gesellschaft an. Im oströmischen Recht, einige
Jahrhunderte später, bezog er sich auf die Rechte des Individuums gegenüber dem Staat. Jeder sollte
die Rechte erhalten, die ihm zustehen. Gleichheit und der Ausgleich von
Interessen standen im Vordergrund, ebenso wie die legitime Vielfalt der
Menschen; jeder darf sein, wie er will. Das sollte das allgemeine Verständnis
der drei Worte sein.
Und selbst im Preußen des 18. Jahrhunderts taucht die Formel
auf, wenn auch in seiner lateinischen Form „suum cuique“ – als Motto des Hohen Ordens vom Schwarzen Adler, verliehen
an die Elite um Friedrich I. Der „Endzweck Unseres Reiches und Ordens“ ist es,
„Recht und Gerechtigkeit zu üben, und jedweden das Seine zu geben“, statuierte
der Preußenkönig dazu. Die Liste ist ewig fortzuführen, denkt man einmal an
Bachs Kantate „Nur jedem das Seine“ oder Nietzsche, der die Sentenz in eines
seiner Werke aufnimmt. Und selbst Goethe verarbeitet den alten
Gerechtigkeitsgrundsatz.
Die Nationalsozialisten pervertierten ihn und begründeten
darin das „Recht des Stärkeren“. Die Gleichheitsformel
wird verfälscht und missbraucht. Die SS erniedrigt die Häftlinge mit ihrer
Fehlinterpretation. „Jedem, was er verdient“ propagiert zynisch die
Notwendigkeit und Legitimität der Unterdrückung und Vernichtung von Menschen.
Die Häftlinge wurden Tag für Tag im Konzentrationslager daran erinnert, dass
sie in der Auffassung der SS hierher gehören, dass sie nur das bekommen, was
ihnen als „minderwertigen“, „volksschädlichen“ Menschen zusteht.
Grotesker wird der von Schnog angesprochene „Humor“ um die
Inschrift nur noch, wenn man die Verbindung zu Franz Ehrlich herstellt. Wer
hätte gedacht, dass es die SS selbst ist, die das Bauhaus wieder zurück in
seine Gründungsstadt Weimar holen würde, nachdem es 1933 zwangsaufgelöst wurde?
Denn das typografische Design unterscheidet sich nicht zufällig von dem anderer
Lager: Franz Ehrlich gestalte die Inschrift in Anlehnung an seinen Lehrer Joost
Schmidt. So prangen nun eigentlich „entartete“ Bauhäusler-Buchstaben am Tor von
Buchenwald. Ehrlichs Sinn für Widerstand lässt sich somit auch im
„Aushängeschild“ des Lagers wiederfinden, auch wenn die SS den Akt der Selbstbehauptung
nicht bemerkte.
Weiter schreibt Schnog:
So leuchtet, erhaben und arrogant,
Was sie an das Höllentor schmieden.
Uns ist auch ohne das Sprüchlein bekannt,
Was jedem im Lager beschieden[.]
Was sie an das Höllentor schmieden.
Uns ist auch ohne das Sprüchlein bekannt,
Was jedem im Lager beschieden[.]
Mit anderen Worten: „Uns den Tod, ihnen den Sieg, so verstanden
die barbarischen Schöpfer die schmiedeeiserne Schrift.“ – so der
Buchenwald-Überlebende Herbert Sandberg.
Nun mag man annehmen, dass der Spruch „Jedem das Seine“
aufgrund dieses Missbrauchs schon lang aus dem deutschen Sprachgebrauch
verschwunden sein müsste. Der Konjunktiv deutet es jedoch bereits an: Die
Realität sieht anders aus.
„Arbeit macht frei“, eigentlich aus dem theologischen
Sprachgebrauch des 19. Jahrhunderts, ist keine Redewendung, die heute noch
genutzt wird. Dafür wurde die Öffentlichkeit schnell sensibilisiert. Die
Buchenwald-Inschrift dagegen führte zwar immer wieder zu Kontroversen, eine
öffentliche Aufmerksamkeit fehlte aber in beiden deutschen Staaten nach Ende des Krieges gänzlich. Die Worte verblieben
weiterhin im Sprachgebrauch – erst die Eröffnung der Nationalen Mahn- und
Gedenkstätte Buchenwald im September 1958 sollte das
ändern. Genauso wie das ehemalige Konzentrationslager in eine neue
Öffentlichkeit rückte, folgten Hinweise auf die belastete Bedeutung der drei
Worte in der DDR, aber auch in Westdeutschland kam der Bedeutungsgehalt der
Formel in Umlauf. Ein wirkliches
Bewusstsein etablierte sich erst in den 1960er Jahren, als mehr Fragen um den
Gebrauch der im Nationalsozialismus instrumentalisierten Sprache aufkamen.
Doch selbst Ende der 1990er tauchten immer wieder Promotionen
für Produkte von Nokia, Microsoft, der Deutschen Telekom und einigen anderen
auf, die, ohne zu hinterfragen, „Jedem das Seine“ zu ihren einprägsamen
Werbeslogans machten. Und selbst im 21. Jahrhundert schaffte es die Wortgruppe
nicht vollends aus der Schleife des „Normalisierens“ und „Alltäglichmachens“.
Dem einen oder anderen rutscht zum Beispiel in völlig anderem Kontext die saloppe Bemerkung
heraus: „Jedem das Seine“. Sind das Reste einer gesellschaftlichen
Verdrängung der Vergangenheit? Naivität? Ignoranz?
Es gab und gibt Leute, die eine völlige Tabuisierung
ablehnen. Das hat eine Debatte entfacht, die auch
heute noch nicht eineindeutig geklärt ist. Eine Nutzung von „Jedem das Seine“ nur in Hinblick auf den klassischen Ursprung und ohne
augenblickliche Assoziation mit Buchenwald ist kaum umsetzbar. Man fragt sich, wie sinnvoll es ist, anzustreben,
einen solchen Spruch ganz offiziell wieder in die deutsche Sprache
einzugliedern, selbst wenn man noch so „reflektiert“ und „aufgeklärt“ damit
umgeht. Warum dann nicht auch metaphorisch von „Arbeit
macht frei“ sprechen – beziehen wollen wir uns ja schließlich nicht auf die
Verhältnisse in Groß Rosen, Theresienstadt und Auschwitz, sondern lediglich auf
ein kirchliches Ideal – oder nicht?
Ein differenzierter Umgang mit der Buchenwalder Losung ist
mehr als ratsam und fundamental wichtig. Kritiker mögen meinen, man dürfe sich
nicht einem Nachlass des Dritten Reiches beugen, nur weil eine Formulierung in
diesem Rahmen instrumentalisiert wurde. Sie sind der Ansicht,
dass bestimmtes NS-Vokabular auch heute noch verwendet oder quasi zurückerobert
werden könne. Ich bin der Ansicht, dass solche
nazistischen Überreste der deutschen Sprache kaum Anspruch haben, normalisiert
zu werden. Das ist nicht Teil einer Verdrängungsstrategie, sondern vielmehr ein
geschichtsbewusster und achtsamer Umgang mit den Vermächtnissen des
Nationalsozialismus.
Es ist überaus wichtig, gerade in Zeiten des Erstarkens von Rechtsradikalismus, Alltag und
Geschichte abzugrenzen. Um reflektiert mit der nationalsozialistischen
Vergangenheit umzugehen, sollte man ganz bewusst bestimmte Worte und
Formulierungen aus dem Alltäglichen und Gebräuchlichen entfernen. Dazu gehören
nicht nur solche Inschriften, sondern auch Worte wie „Ausmerze“ oder
„Zigeuner“, die erst vor kurzem wieder Teil öffentlicher Diskussion wurden. Vielleicht mag das penibel klingen. Man muss jedoch dem
Prozess einer gefährlichen Normalisierung und unterschwelligen Neuetablierung
alten Gedankenguts entgegenwirken. Ansonsten wird signalisiert, dass unsere
heutige Gesellschaft offen für Derartiges sein könnte, auch wenn es nur Worte
sind – doch auch Kleines kann schnell Antrieb für Großes werden.
Ihr Herren, die ihr heute noch grient,
Glaubt mir, was ich schwörend beteure:
Einst holt sich der Häftling, was er verdient.
Und ihr? Ihr bekommt dann das Eure!
Glaubt mir, was ich schwörend beteure:
Einst holt sich der Häftling, was er verdient.
Und ihr? Ihr bekommt dann das Eure!
Die letzten Verse des Gedichts Schnogs. Den „Herren“ wurde
gehörig das „Grienen“ ausgetrieben. Doch „Jedem das Seine“ bleibt weiterhin Synonym
für Massenmord und Ungerechtigkeit, für Täterschaft und
Schuld. Für das Instrumentalisieren und Ausbeuten Unschuldiger wie Franz
Ehrlich, für ein Erbe, das bis heute Bestand und Aktualität hat. Bleibt zu
hoffen, dass der Dreiklang keine Renaissance in der Sprache erlebt, ferner
erneut Teil unserer Gesellschaft wird. Reines Hoffen hilft nur leider nicht
immer – hier sollten Taten folgen.
Sophia