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Weimar und Buchenwald - Nachbarn, Freunde, Profiteure?


Nachbarschaft. Der Duden definiert sie allgemein als „unmittelbare räumliche Nähe zu jemandem“. In kurzer Distanz zu jemandem zu wohnen und zu leben, bedeutet aber nicht notwendig, ein enges Verhältnis zu seinen Nachbarn zu pflegen. Es ist möglich, dass man sich voneinander abschottet, den Wohnraum des anderen nie betritt, keinerlei Beziehung aufbaut. Sicher gibt es solche Nachbarschaften. Oftmals assoziiert man mit Nachbarschaft jedoch Begriffe wie Freundschaft, Zusammenarbeit, Integration. 


In den 1970er Jahren beschrieb ein Soziologe die Nachbarn als „eine soziale Gruppe, deren Mitglieder primär wegen der Gemeinsamkeit des Wohnortes miteinander interagieren“. Interaktion. Nachbarn tauschen sich aus, helfen sich gegenseitig, streiten und versöhnen sich wieder. Ist es nicht genau das, was die Beziehung zwischen dem Konzentrationslager Buchenwald und der Stadt Weimar ausmachte? 


Weimar und Buchenwald waren nicht nur räumliche Nachbarn, sondern gingen auch soziale, juristische, verwaltungstechnische und wirtschaftliche Beziehungen ein. Intensive Verflechtungen prägten ihr Verhältnis. Das Konzentrationslager war eingebettet in die Infrastruktur seiner Umgebung, war Teil Weimars und seiner Bürger. Es war nicht, wie später vielfach behauptet und auch heute mitunter angenommen, isoliert von der Weimarer Gesellschaft. Buchenwald war kein abgekapselter, kein losgelöster Ort des Bösen, der im Geheimen neben der ahnungslosen Stadt wütete. 


Das Lager Buchenwald hätte ohne die wirtschaftliche Vernetzung mit Weimar, ohne Duldung und Förderung der Stadt und ohne allgemeine Akzeptanz unter den Bürgern nicht lange bestehen können. Als unabhängige, von der Umwelt abgeriegelte Komplexe waren Konzentrationslager nicht überlebensfähig. Weimar und Buchenwald brauchten einander, profitierten voneinander. Viele der verbrecherischen Vorgänge im Lager ließ die SS zwar mit großer Vorsicht nicht an die Öffentlichkeit dringen. Die Existenz und Funktion der Einrichtung auf dem Ettersberg aber war in ganz Weimar bekannt. 


Am 4. Juli 1926 hält die NSDAP ihren zweiten Reichsparteitag ab – in Weimar. Schon in den 1920er Jahren ist die Stadt Hochburg nationaler und völkischer Mentalitäten und damit Zentrum rechtskonservativer Strömungen. Thüringen stellte als erstes Bundesland einen Minister aus der NSDAP und 1932 die erste Landesregierung unter Führung der nationalsozialistischen Partei. Der bürgerliche Mittelstand Weimars erhoffte sich von ihr, dass sie alte Privilegien wiederherstellte und die Werte der Kulturstadt vor den modern-demokratischen Umwälzungen bewahrte. Weimar zeigt exemplarisch, dass der Nationalsozialismus 1933 nicht einfach auf das deutsche Volk hereinbrach, sondern schon lange vorher in der Bevölkerung Wurzeln schlug. Den Weimarern wurde er nicht aufgezwungen, sie luden ihn vielmehr ein. 


In den darauffolgenden Jahren begannen die Nationalsozialisten immer mehr, Weimar im Sinne ihrer Ideologie zu vereinnahmen. Goethe und Schiller waren nun Vordenker des Nationalsozialismus und ihre Werke Träger echter deutscher Kultur. Weimar wurde ganz und gar in den Dienst des Regimes gestellt und für die Propaganda instrumentalisiert. 


Heute stellt sich oft die Frage, wie die menschenverachtende Weltanschauung ausgerechnet in Weimar Fuß fassen konnte, wo dies doch die Stadt der humanistischen Ideale war. Man muss sich bewusst machen, dass die Eskalation der nationalsozialistischen Ideologie, die in Buchenwald ihre Vollendung fand, nicht trotz Goethe geschehen ist, sondern gerade seinetwegen, mit ihm. Schließlich wünschte sich das Weimarer Bürgertum noch vor 1933 eine neue politische Macht, die „ihr“ Weimar und die verklärten Symbole der Klassik konservierte. Weimar selbst sah sich als Hüter der deutschen Hochkultur, der germanischen Renaissance – und damit gleichzeitig als Hüter der „Volksgemeinschaft“, zu der Goethe und Schiller wohl gezählt wurden, die in Buchenwald ermordeten Menschen jedoch nicht. 


Hier liegt einer der Gründe, warum das Konzentrationslager schnell Zustimmung oder zumindest keinen Protest in der Bevölkerung fand. Nachdem im Sommer 1937 die ersten Häftlinge kamen und das Konzentrationslager Buchenwald selbst aufbauen mussten, legte die NS-Kulturgemeinde Weimar Beschwerde ein. Nicht etwa gegen die Institution des Lagers an sich, sondern gegen ihren Namen. „Ettersberg“ sollte das Konzentrationslager eigentlich heißen. Das erinnere jedoch zu sehr an Goethe und solle dem Dichterfürsten allein zustehen. So nannte man das Lager schließlich „K.L. Buchenwald/Post Weimar“. In der Bevölkerung gab es keine ideologische Grundsatzdiskussion, sie trauerte nur um Teile des Freizeit- und Erholungsgebiets auf dem Ettersberg, die nun durch die Errichtung des Konzentrationslagers wegfielen. 


1938 wurde Buchenwald sogar in den Stadtkreis Weimar eingemeindet. Einmal etabliert, hatten Weimarer Firmen keine Skrupel, mit dem Lager Geschäfte zu machen. Interaktion zwischen Nachbarn wurde Kollaboration:


Das Konzentrationslager ließ sich von Weimar mit den verschiedensten Dingen beliefern. Weimarer Großhändler und Bauern der Umgebung gewährleisteten die Lebensmittelversorgung. Neben privaten Metzgereien war auch der Schlachthof von Weimar für die Belieferung mit Fleischwaren zuständig. Brauereien versorgten die SS mit Bier, Apotheken nahmen Bestellungen der SS-Ärzte entgegen. Firmen verkauften Formularvordrucke, Stroh, Kohle und Brennholz an Buchenwald. Für die Verschickung von Urnen war von der Post eine bestimmte Verpackung vorgegeben. Diese Urnenkartons erhielt die SS von einem Weimarer Buchbinder. Insgesamt hatten mindestens 40 Weimarer Firmen Geschäftskontakte mit dem Lager. 


Neben den wirtschaftlichen Verflechtungen gab es zahlreiche verwaltungstechnische Beziehungen zwischen dem Konzentrationslager und der Stadt. Das Postamt richtete sich in Buchenwald eine eigene Poststelle ein. Das Standesamt von Weimar hatte eine Außenstelle im Lager – das Standesamt II, das unter anderem die Totenbücher überprüfte. Bis zur Aufstellung einer eigenen Lagerfeuerwehr wurde der Brandschutz für Buchenwald von der Weimarer Berufsfeuerwehr übernommen. Man könnte die Liste lange fortführen. 


Das Konzentrationslager war aber nicht nur durch diese Verbindungen in der Stadt präsent, sondern auch ganz wortwörtlich in der Stadt – wenn Häftlinge in den verschiedensten Kommandos in Weimar Zwangsarbeit leisteten. Die Gefangenen des Lagers prägten das Weimarer Stadtbild – schon ab 1938, aber besonders mit Beginn der zweiten Kriegshälfte, als massenhaft Häftlinge für die Rüstungsindustrie arbeiten mussten. Weimarer Unternehmen und Privatbetriebe mieteten Häftlinge an und beuteten sie restlos aus. Häftlinge wurden in Kriegsbetrieben und bei Räumungsarbeiten nach Luftangriffen eingesetzt, aber auch in Apotheken, bei Elektrikern und sogar im Hotel Elephant. Bis 1945 gab es insgesamt 96 Arbeitskommandos in Weimar. Die Weimarer waren hier ganz direkt mit dem Konzentrationslager konfrontiert. 


Abseits von geschäftlichen Kontakten gab es auch zahlreiche soziale. Der SS-Falkenhof stand eine Zeit lang der Bevölkerung zur Verfügung. Gegen einen Eintrittspreis konnten Weimarer Familien ihr Wochenende hier verbringen. Das Lager war ab 1939 auch über den öffentlichen Personennahverkehr zu erreichen. Mehrmals täglich fuhren Busse von Weimar die Haltestelle „Lager Buchenwald“ an. Und natürlich gingen die SS-Angehörigen in Weimar ein und aus. Von Anfang an waren sie fest in das kulturelle Leben Weimars integriert. Sie pflegten private Kontakte zu Weimarer Bürgern, führten Veranstaltungen in der Stadt durch und hatten sogar ihre eigene reservierte Reihe im Deutschen Nationaltheater. 


Nicht immer verlief die Beziehung zwischen Stadt und Lager so reibungslos. Es kam auch zu Konflikten. So etwa 1938, nachdem in Buchenwald eine Typhusepidemie ausgebrochen war und auf die umliegenden Dörfer übergriff. Die Gesundheitsbehörden übten so lange Druck auf die Lagerführung aus, bis sie Maßnahmen zur Eindämmung ergriff. Nicht etwa aus Sorge um die Gesundheit der Häftlinge, sondern zum Schutz der „Volksgenossen“.


Die gegenseitige Durchdringung von Stadt und Lager ist unübersehbar. Wissen von und Beteiligung an Verbrechen im Konzentrationslager hat es gegeben. Bis zur Einrichtung eines eigenen Krematoriums in Buchenwald 1940 wurden die Leichen aus dem Lager im städtischen Krematorium verbrannt. Dabei hielt sich die Stadt nicht an die gesetzlichen Vorschriften: Die Einäscherung geschah ohne Zustimmung der Angehörigen und ohne, dass vorher die Todesursache festgestellt wurde. Die Stadt Weimar entwickelte sich zum wichtigen Zahnrad im Prozess des Tötens und menschenunwürdigen Umgangs mit den Toten. In der Anfangszeit des Lagers wurden kranke Häftlinge noch im städtischen Krankenhaus behandelt. Sie kamen mit Schusswunden, Krankheiten, Arbeitsverletzungen und Unterernährung. Den Ärzten müssen die Lagerverhältnisse also bewusst gewesen sein. 


Auf die Frage, ob die Weimarer von Buchenwald wussten, kann man eindeutig mit „ja“ antworten. Die Fragen danach, was und wie viel sie wussten und welche Schuld sie tragen, sind etwas komplizierter. Unter den vielen Weimarer Bürgern gab es sicherlich ein großes Spektrum der Mittäterschaft – über Toleranz und Befürwortung, Kooperation und Eigeninitiative zu Rationalisierung und Verdrängung. 


Allgemein ist festzustellen, dass die Weimarer nicht von jedem Detail des Schreckens im Lager Kenntnis hatten, zumal die SS bemüht war, nicht mehr als gewollt preiszugeben. Im Großen und Ganzen hat die Bevölkerung das Lager als normalen und notwenigen Ort angesehen. Man fühlte sich zugehörig zur „Volksgemeinschaft“ und glaubte an die nationalsozialistische Ideologie von „minderwertigen“, „gesellschaftsschädlichen“ Personen und die Überlegenheit der eigenen „Rasse“. Die Überzeugung war, dass die SS das Recht, ja sogar die Pflicht hatte, Personen einzusperren, um die „Volksgemeinschaft“ zu schützen. Die Konzentrationslager wurden als normaler Teil des Systems, als folgerichtige Durchsetzung der nationalsozialistischen Weltanschauung betrachtet.


Die Gründe, warum die Weimarer vor der Realität des Lagers die Augen verschlossen, es verdrängten, wegsahen oder es sogar aktiv unterstützen, gehen sicher noch über ideologische Zustimmung hinaus. Auch Motive wie Opportunismus, Aufstiegschancen, Gruppendruck, Autoritätshörigkeit, Ängste und Gewöhnung an Gewalt spielten eine Rolle. 


Die Mittäterschaft von zahlreichen Beamten, Firmen, Betrieben und die Kooperation der Bevölkerung machten das langjährige Bestehen des Konzentrationslagers aber erst möglich. Es war keine kleine Tätergruppe, keine isolierte NS-Elite, die die nationalsozialistischen Verbrechen beging, Zivilisten beteiligten sich in unterschiedlichen Ausmaßen daran. 


Später entwickelte sich ein Narrativ in Deutschland, das Weimar völlig von Buchenwald loslöste. Die Kulturstadt und ihre Epoche der Klassik werden dabei als ewig und unveränderlich, alles andere überstrahlend romantisiert. Buchenwald wird als schmutziger Fleck auf der sonst glänzenden Stadtgeschichte abgetan. Weimar wäre der dauerhafte Ort des Guten und Schönen, das Konzentrationslager der Ort des zeitweiligen Bösen. Mit Fragen wie „Wie konnte das nur gerade in Weimar passieren?“ wird häufig eine ernsthafte Auseinandersetzung weggeschoben und durch oberflächliche Bestürzung ersetzt. 


Goethe und die Klassik sind Schutzschild des Unverständnisses, des Nicht-Glauben-Könnens. Dadurch wird vergessen, dass es politische, ideologische, soziale, ökonomische und psychologische Prozesse waren, die in den Holocaust geführt haben. Er ist kein Mythos von Gut und Böse, keine Erzählung der deutschen kulturellen Werte und des plötzlichen, unerklärlichen Einbruchs der Barbarei. Er ist menschengemacht. Und es kann nur sichergestellt werden, dass sich solche Verbrechen nicht wiederholen, wenn ihre Voraussetzungen und Mechanismen verstanden werden. Dazu gehört auch die Beziehung zwischen Weimar und Buchenwald – dass das Konzentrationslager zwar abseits von Weimar auf dem Ettersberg stand, die Verfolgung und Gewalt jedoch, wie der Buchenwald-Überlebende Jean Améry sagt, „mitten im deutschen Volke“ stattfanden.  


Franka



 

 

Deutsches Nationaltheater in Weimar um 1938

Foto: Stadtarchiv Weimar



Wegweiser zwischen den SS-Kasernen Buchenwald und dem KZ Buchenwald 

am Carachoweg. Links unten im Bild ist ein Stück des Haltestellenschilds der

Buslinie Weimar-Buchenwald zu erkennen.

Foto: Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora

 

 

Häftlinge des KZ Buchenwald bei Aufräumarbeiten in der Weimarer Jakobsvorstadt, Februar 1945

Foto:  Günther Beyer. Lichtbildner Constantin Beyer, Weimar

 

 

 

Weimarer BürgerInnen im befreiten KZ bei der Zwangsbesichtigung
am 16. April 1945.

Foto: Walter Chichersky, U.S. Signal Corps, 16. April 1945. National Archives, Washington



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Weimarer BürgerInnen werden bei der Zwangsbesichtigung am 16. April 1945
von US-Soldaten mit den Leichen im Hof des Krematoriums konfrontiert

Foto: Walter Chichersky, U.S. Signal Corps, 16. April 1945. National Archives, Washington