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Musik in Buchenwald - Wo "Entartetes" zur Kunst und jüdische Komposition eine Hymne wurde 

 

„O Buchenwald, ich kann dich nicht vergessen, weil du mein Schicksal bist. Wer dich verließ, der kann es erst ermessen, wie wundervoll die Freiheit ist!“ – Dunkel, Nacht; erschöpft von der Arbeit, der Atem gefriert in der kalten Dezemberluft. Stunden müssen vergangen sein, lange, quälende Stunden und immer wieder diese Zeilen, die nunmehr bedeutungslos in den Reihen der starrgefrorenen Männer umherirren, an diesem Tag, 1938. Buchenwald – Schicksal – Freiheit. Ja, man kann es nicht vergessen. Die Erlebnisse, die Qualen, das Elend. Und wer wird Buchenwald verlassen, um die Freiheit zu spüren? Was mag dem Häftling durch den Kopf gegangen sein, da er jeden Tag dieselben Zeilen sang – schmerzt es ihn oder gibt es Hoffnung? Nun, vielleicht ist es ihm auch egal, wenn er die Musik vernimmt. Die Musik in Buchenwald.

Musik hat in meinem Leben einen unersetzlichen Stellenwert – sei es das eigene Musizieren am Klavier, im Chor oder das Auseinandersetzen mit Musikgeschichte und Komponisten. Und mit Sicherheit bin ich nicht die einzige, die für jede Situation irgendeine Melodie kennt, um die jeweilige Emotion zu verstärken oder Ruhe zu finden. Sicherlich spielt im Leben der meisten Menschen Musik eine ausschließlich bereichernde Rolle. Etwas so Individuelles, Künstlerisches, Menschliches wie Musik – wie passt das in ein Konzentrationslager, einen Ort, der genau das Gegenteil all dieser Dinge ist? Warum existierte Musik in Buchenwald und anderen Lagern? Denn es gab sie. Und sie hatte eine wesentlich größere Bedeutung, als man vielleicht vermutet. Aber was ist es, das sie ausmacht? Wie konnten die Schönheit der Musik und die Hässlichkeit des Lagerlebens koexistieren?

Wenn man von „Musik in Buchenwald“ spricht, sollte man sich bewusst sein, dass ihr Einfluss sehr ambivalent war. Die Täter setzten sie zur Qual der Opfer ein, die Opfer zur Selbstbehauptung gegenüber den Tätern. Es sind harte Gegensätze, die aufeinandertreffen. Dies äußert sich in den verschiedenen Funktionen der Musik, die essentiell für das Verständnis sind, warum ihr eine so tragende Rolle zukam. Kadenzierten die Funktionen von Motivation zu psychischer Unterstützung, wurden sie durch Dissonanzen auf Seiten der SS begleitet. Jeder Takt und jeder Ton bewegte sich irgendwo zwischen verordnet, geduldet und illegal.

Sich über die tödliche Grenze des Stacheldrahtzauns hinwegzusetzen und Freiheit wenigstens imaginär für einige Augenblicke zu spüren; die Flucht aus dem harten Alltag, der grausamen Realität, Hoffnung auf eine bessere Welt und Erlösung – wesentliche Voraussetzungen für die Stärkung des eigenen Überlebenswillens. Musik bot Möglichkeiten, Erlebnisse und traumatische Ereignisse zu verarbeiten. Gerade der Individualitätsgedanke wurde betont, befand man sich doch in einer absolut gleichgeschalteten Zwangsgemeinschaft, in der nach nationalsozialistischem Ideal das Individuum unterging. Die Menschen fanden Wege, sich auszudrücken, Wünsche und Sehnsüchte zu kommunizieren. Ganz besonders signifikant wurde die kognitive Auseinandersetzung mit dem künstlerischen Gegenstand. Der Geist abgestumpft von monotoner Arbeit – Musik als Kompensation und Ausgleich.

Daneben war es auch die Gemeinschaft, die in ihrer Identität gefördert wurde. Inmitten all der unterschiedlichen politischen, nationalen, konfessionellen und sozialen Gefüge unter dem spaltenden System der Winkel, eröffneten sich Chancen, gemeinsame Traditionen und Gesinnungen zu bewahren, zu anderen Häftlingen Kontakt aufzunehmen. Diese Form des gemeinsamen Musizierens lässt sich besonders gut an den national geprägten Quartetten des Lagers ersehen. So gab es im Konzentrationslager Buchenwald ein tschechisches, französisches und jüdisches Quartett.  

Walter Wolf, politischer Häftling in Buchenwald, berichtet über die jüdische Musikergruppe: „Auf Block 37, auf anderen Blocks musizierte ein Quartett. Unsere jüdischen Kameraden spielten Sätze aus der ‚Kleinen Nachtmusik‘ von Wolfgang Amadeus Mozart. Wir lauschten, wir träumten: Zu Haus, draußen, jenseits des Drahtzaunes, dort in der Freiheit. Wir waren wieder einmal Menschen! – In unserer Phantasie!“

Vor allem aber war das Musizieren ein Akt der Selbstbehauptung. Dieser Begriff ist einer, der nicht selten in Zusammenhang mit „Widerstand“ auftaucht. Schnell erscheinen Assoziationen von aktiven, rebellischen, sogar bewaffneten Handlungen, ein organisiertes Auflehnen gegen eine Unrechtsmacht. Selbstbehauptung impliziert dagegen eher passive Akte des Widerstands, die nach Möglichkeit im Geheimen bleiben. Offener Widerstand war chancenlos im Angesicht der Durchschlagkraft der SS. Gerade in der Musik konnte Selbstbehauptung umgesetzt werden: Sie war ein Weg, die Menschlichkeit, die die SS den Häftlingen mit allen Mitteln versuchte zu nehmen, zurückzuerobern und zu demonstrieren. Sie war eine Form des Protestes, Ausdruck von Persönlichkeit, Verweigerung der Selbstaufgabe. 

Das konnte durchaus auch lauter geschehen, gerade in Vokalwerken. Beabsichtigtes Falschsingen, dynamische Interpretationen entgegen der SS oder auch das Komponieren kritischer Texte waren Möglichkeiten, konnten allerdings brutale Repressalien nach sich ziehen.

In der Musik lassen sich zudem die Extreme des Lagerlebens besonders deutlich erkennen: Eine Lebenswelt zwischen selbstbestimmtem Musizieren der Häftlinge und perfider Folter der SS. Sie nutzte Musik, um die Häftlinge zu disziplinieren und zu beherrschen: Während der Appelle, beim Ausrücken zur und Einrücken von der Arbeit musste die Lagerkappelle Marschlieder spielen. Auch beim Vollzug von Strafen erklang Musik, um die Erniedrigung zu verstärken und die klare Hierarchie zwischen SS und Häftlingen aufzuzeigen.

Bereits 1938 als eigenständiges Arbeitskommando gegründet, war die Lagerkapelle das musikalische Zentrum Buchenwalds. Von anderen Häftlingen wurde das vermeintlich leichte Arbeitskommando beneidet. Jedoch waren auch die Musiker der Lagerkapelle durch stundenlanges Spielen und psychischen Druck, das Leid ihrer Kameraden mit aufgeweckter Musik zu untermalen, ebenso schwer belastet.

Walter Wolf, der gleiche Häftling, der die Konzerte des jüdischen Quartetts als so tröstlich und ermutigend empfand, beschreibt zudem, welch zermürbenden Einfluss Musik auf die Häftlinge haben konnte: „Musik, wieder einmal Musik. […] Erinnerungen und das Bewußtsein unserer fast hoffnungslosen Lage, durch diese Musik aufgewühlt, quälen mich so, daß ich davonlief. Musik? Das Elend ist zu groß, sie ertragen zu können.“ Musik, im freien Leben eine Quelle der Freude, konnte im Konzentrationslager demoralisieren und terrorisieren.

Nicht zuletzt war es aber auch die Repräsentation, der große Bedeutung zukam. Waren hochrangige Parteimitglieder angekündigt, etwa Heinrich Himmler, spielte die Lagerkapelle bei deren Ankunft militärische Musik und die Häftlinge sangen. Nach außen hin stellte sich das Konzentrationslager so als kultivierte Vorzeigeeinrichtung dar und suggerierte eine gute Verfassung der Häftlinge. 

Gedemütigt wurden manche Häftlingsgruppen, indem die SS sie zwang, erniedrigende, nationalsozialistische Lieder zu singen – so zum Beispiel die Juden das antisemitische „Judenlied“. Und eben solche Lieder sind es, die darauf abzielten, den inneren Willen der Häftlinge zu brechen, ihre Individualität zu zersetzen. Eine besondere Verhöhnung war es, wenn fröhliche Kinderlieder wie „Alle Vöglein sind schon da“ gesungen wurden, Lieder, die so im Widerspruch zur Realität standen, in der die Männer jeden Tag aufs Neue schier untragbaren physischen und psychischen Qualen aussetzt waren.

Widerspruchsfrei ist die Musik in Buchenwald nicht. Neben verordneter und illegaler gab es die von der SS geduldete Musik – zum Beispiel in der Kinobaracke. 27 Lagerkonzerte wurden hier gespielt, denen nicht nur Mithäftlinge beiwohnten, sondern deren erste Reihe ausschließlich der SS vorbehalten war. Es ist jedoch wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass es in diesem Zusammenhang auch soziale Unterschiede unter den Häftlingen gab – repräsentativ konnte die doch recht kleine, in diesem Sinne privilegierte Gruppe, die Musik machen, anhören und sich Instrumente organisieren konnte, kaum gesehen werden. Die versteckten Proben von Musikern im Kleinen Lager etwa zeigen den Kontrast zwischen Menschen, die ihre Musik machten und denen, die ums nackte Überleben kämpften.

Auch das Jazzorchester „Rhythmus“ gehört zu den allgemeinen Widersprüchen der Buchenwalder Musik. 1943 gegründet, probte man anfangs in besagtem Kleinen Lager – fernab der Augen und besonders Ohren der SS – und organisierte Instrumente für die insgesamt immerhin 18 Mitglieder unterschiedlichster Nationen. Als ursprünglich afroamerikanischer Musikstil gehörte der Jazz schnell zu jener Musik, die durch den Begriff „entartet“ im Sinne der Zensur des Nationalsozialismus diffamiert und verboten wurde. Die SS entdeckte das Ensemble. Doch statt zu bestrafen, wandelte sich der Status einer „illegalen“ zu dem einer „geduldeten“ Musik. Mag es an reiner Unwissenheit oder gar Gefallen der SS gelegen haben oder aber weil die Häftlinge als „Minderwertige“ auch „minderwertige“ Musik spielen durften – mit dem Jazz erklang nun ein ideologisches Paradoxon innerhalb des Stacheldrahtzauns.

„Wenn der Tag erwacht, eh´ die Sonne lacht, die Kolonnen ziehn zu des Tages Mühn hinein in den grauen Morgen.“ – So lauten die einprägsamen ersten Zeilen der bekannten, janusköpfigen Komposition. Ende 1938 als „Buchenwalder Lagerlied“ komponiert, wurde das Buchenwaldlied fortan wichtiger Bestandteil des Lageralltags und -lebens. Nachdem die SS-Führung einen Wettbewerb für die Komposition eines Lagerliedes ausgerufen hatte, schrieben die Häftlinge Hermann Leopoldi und Fritz Löhner-Beda diese Buchenwalder „Hymne". Als österreichische Juden konnten sich beide nicht als Urheber des Liedes zu erkennen geben, weshalb der nicht-jüdische Kapo der Poststelle diesen Part übernahm.

Als mit voranschreitendem Krieg zunehmend Nichtdeutsche das Bild der Häftlingsgesellschaft prägten, verlor auch das Buchenwaldlied an Bedeutung. Doch bleibt es bis heute besonderes Zeitzeugnis und Überrest jener Tage, in dem sich einerseits der Alltag der Häftlinge widerspiegelt, insbesondere aber der Schmerz und die Hoffnung vieler erkennbar ist. Das Buchenwaldlied verdeutlicht wie kaum etwas sonst, wie nah die zwei Kehrseiten von Musik im Konzentrationslager zusammenliegen konnten. Eigentlich für die SS geschrieben, konnten viele Häftlinge wieder Mut und Zuversicht aus dem Lied schöpfen.

Musik ist in unserer heutigen Gesellschaft überwiegend positiv konnotiert. Daher ist es umso interessanter, Musik und Buchenwald in so direkten Zusammenhang zu bringen. Musik der Häftlinge – für Opfer und Täter. Dass selbst innerhalb des Stacheldrahtpferchs Kompositionen entstanden, ist kaum vorstellbar – sie zeugen von beständigem Festhalten am eigenen Lebenswillen wider alle Umstände. Hilfe, Zuflucht, Träumen, Freiheit; allein das geheime Spielen von Ständchen zum Geburtstag oder heimatlichen Melodien an Feiertagen – all das gibt Mut zur Hoffnung auf ein Ende dieser Zeit, die sich mit dem 11. April 1945 erfüllen sollte. Das Buchenwaldlied ist Teil des Jahrestags der Befreiung des Lagers geworden, ist also nicht wie andere Nachlässe des KZ reine Geschichte. Ein stückweit bleibt so auch die Musik von Buchenwald erhalten – und mit ihr die vielen Häftlinge, die sich tagein tagaus immer nur an diese eine Hoffnung klammerten: „O Buchenwald, wir jammern nicht und klagen, und was auch unser Schicksal sei, wir wollen trotzdem ja zum Leben sagen, denn einmal kommt der Tag: dann sind wir frei!“

Sophia



Musik in Buchenwald
 
 

 

Noten und Zeilen des Buchenwaldlieds

 

 

 

Fritz Löhner-Beda                                       Hermann Leopoldi