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Unsere ersten Monate - Zwischen Detektivarbeit
und weißen Kitteln

Freiwilliges Soziales Jahr. Da hören viele entweder Kindergarten oder Altenheim. Dass es so etwas wie ein FSJ Kultur oder Politik gibt, das ist den meisten nicht bewusst und von einem FSJ an einer Gedenkstätte kann sich der Großteil erst gar kein Bild machen. Selbst wir, die schon die Schritte der Recherche, Bewerbung und Vorstellungsgespräche erfolgreich durchlaufen hatten, wussten nicht so genau, was uns an unserem ersten Tag an der Gedenkstätte Buchenwald erwarten würde. Natürlich hatten wir das ausgeschriebene Aufgabenprofil für die Freiwilligen gründlich gelesen, entschieden, dass wir uns den Anforderungen gewachsen fühlen und waren mit viel Neugier und Wissensdurst in den neuen Lebensabschnitt gestartet. Aber als wir am Morgen von unserer Mentorin an der Bushaltestelle abgeholt wurden und sie uns gleich erstmal in die wöchentliche Beratung setzte, wo wir uns den Leitern und Leiterinnen der Abteilungen vorstellen sollten, fühlten wir uns durchaus ein wenig überwältigt. So viele neue Namen und Gesichter, Menschen mit so viel Wissen und Erfahrung, die jetzt unsere Kollegen und Kolleginnen sein würden und unser Arbeitsplatz ein riesiges Gelände, das so viel Geschichte in sich trägt und so viele Geschichten erzählen kann. Und mittendrin wir – Abiturienten, die bisher nichts anderes kannten als Schule und nicht mehr mitbrachten als ein überdurchschnittliches Geschichtsinteresse und eine große Bereitschaft zum Lernen. 

Was machten wir noch an unserem ersten Tag? Im Großen und Ganzen: an Bürotüren klopfen und sich vorstellen, viele Zettel bekommen, sie durchlesen, unterschreiben, vielen Erklärungen zuhören, etwas Angst bekommen, dann wieder etwas Zuversicht und zum Schluss etwas erschöpft in seinem Büro sitzen und sich fragen, wie man sich nur jemals diese ganzen Namen merken, die ganzen Gebäude auseinanderhalten und die ganzen Geschichtsfakten bändigen soll. In den nächsten Wochen würden wir noch viel lernen, aber was wir nach diesem Tag wussten: Erste Tage sind einfach immer schwer. 

Am Ende lebten wir uns schneller ein als gedacht. Ungefähr in der siebten Woche waren die Dinge, die uns am Anfang noch so schwierig und unerreichbar vorkamen, zu Selbstverständlichkeiten, die Gedenkstätte von diesem neuen, einschüchternden Ort zu unserem vertrauten Arbeitsplatz und die so allwissenden, übergroß wirkenden Geschichtsexperten zu nahbaren Kollegen und Kolleginnen geworden. Nachdem wir am ersten Tag nach der Mittagspause noch in das falsche Gebäude gelaufen waren und unsere Büros kaum wiederfanden, kannten wir den Ort mittlerweile fast in- und auswendig. Wir waren angekommen und hatten das Gefühl, anerkannt und ernst genommen zu werden. 

An diesen Punkt zu kommen war aber durchaus nicht einfach. In den ersten Wochen irrten wir oft mit Flyer in der Hand wie Besucher von außerhalb auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers herum. Während wir am Anfang noch alle über die Karte gebeugt versuchten herauszufinden, vor welchem Gebäude wir gerade standen, könnten wir nun zu beinahe jedem Punkt des Außengeländes einen kleinen Vortrag halten. Dieser schlagartige Wissenszuwachs war für mich persönlich eine der schönsten Erfahrungen der ersten Zeit. Als ich das erste Mal meine Eltern zu Hause besucht habe, hatten sie viele inhaltliche Fragen und zu meiner eigenen Überraschung konnte ich sie ihnen alle ausführlich beantworten. Da fiel mir auf, wie viel ich in den letzten Wochen gelernt hatte, fast ohne es zu merken. Meinen Mitfreiwilligen ging es genauso. Und das kam alles nicht, weil wir uns hingesetzt und gebüffelt hatten, wie in der Schule. Wir lernten ganz natürlich, fast nebenbei, im Museum, auf dem historischen Gelände, beim Lesen, beim Hospitieren von Führungen, beim Reflektieren unserer Eindrücke und Gefühle. 

Neben der immer intensiveren Auseinandersetzung mit der Geschichte, erhielten wir auch einen komplexen Einblick in das Innere der Gedenkstättenarbeit. Wir wussten zwar schon, welche Abteilungen es gibt und hatten ein grobes Bild davon, was die Kollegen und Kolleginnen dort tun, damit die Institution funktionieren, wirken und gestalten kann. Aber wie genau sieht der Alltag eines Archivars aus? Eines Museologen? Presse- und Öffentlichkeitsarbeit – an einer Gedenkstätte? Was tut man dort den ganzen Tag? Es gibt an der Gedenkstätte eine Restaurierung? Was wird dort gemacht? Auch das wollten wir verstehen. Die Leiter der jeweiligen Abteilungen stellten uns ihre Aufgabenbereiche vor. 

Dafür nahmen sie sich viel Zeit und mitunter durften wir sogar gleich mitarbeiten. In der Restaurierung reinigten wir einige Objekte, die auf dem Gelände ausgegraben wurden. Darunter waren zum Beispiel die Bruchstücke eines Tellers aus SS-Bestand. Im Archiv konnten wir historische Originaldokumente in die Hand nehmen: ein Blockbuch, Briefe eines Häftlings und das Appellbuch eines Rapportführers.

In der Museologie, der historisch gewachsenen Sammlung der Gedenkstätte, durften wir einen Blick auf viele Kuriositäten werfen. So wird dort zum Beispiel die Rose verwahrt, die Barack Obama bei seinem Besuch in der Gedenkstätte in Ehren an die Opfer niedergelegt hat. Auch Gebäck mit einem Foto von ihm – sogenannte Amerikaner -, die zu diesem Anlass gebacken wurden und mittlerweile steinhart sind, findet man in der Museologie. Das ist aber natürlich nicht alles: Insgesamt umfasst der Bestand 11.000 Fundstücke vom Gelände der Gedenkstätte, meistens Gegenstände aus dem Alltag der Häftlinge. Neben Ausgrabungen wird die Sammlung auch immer wieder durch Ankäufe oder Schenkungen von Privatpersonen erweitert.

In der Kunstaustellung, die wegen der Pandemie leider geschlossen werden musste, sahen wir uns nicht nur die zahlreichen Werke von Häftlingen an, die während der Lagerzeit oder nach der Befreiung, aber auch von zeitgenössischen Künstlern geschaffen wurden. Zusammen mit den Mitarbeitern der Abteilung, die früher selbst Freiwillige waren, nahmen wir die Inventur einer Kunstinstallation des polnischen Künstlers Józef Szajna vor, die ganze 100 Quadratmeter einnimmt und aus mehr als 100 Einzelobjekten besteht. 

Darüber hinaus besuchten wir die Kustodie I zur Geschichte des KZ Buchenwald, die Kustodie II zur Geschichte des Sowjetischen Speziallagers Nr. 2, die Kustodie III zur NS-Zwangsarbeit sowie die Abteilung der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit und erhielten außerdem eine Führung durch die Bibliothek. 

Heute sind wir selbst kleine Archivare, Restauratoren, Bibliothekare und Wissenschaftler. Wir können einmal in der Woche Teil dieser Abteilungen sein. Mal sucht man in den Quellen des Archivs nach dem Namen eines Buchenwald-Häftlings, dessen Angehörige Gewissheit über sein Schicksal haben möchten. Man geht Listen, Datenbanken, Dokumente durch und freut sich dann, wenn man die Geschichte des Menschen rekonstruieren und der Familie etwas über diesen Lebensabschnitt ihres Angehörigen berichten kann. 

Wir bezeichnen unsere Aufgaben im Archiv manchmal als Detektivarbeit. In gewisser Weise ist es auch die Auseinandersetzung mit dem Konzentrationslager Buchenwald durch eine Lupe. Man betrachtet einen einzigen Menschen von den Tausenden, die über viele Jahre verfolgt und in Buchenwald eingesperrt wurden, ganz genau, lernt seinen Namen, seine Geschichte. Ein winziges Detail in der großen Geschichte von Buchenwald wird auf einmal sichtbar und bedeutsam. 

An anderen Tagen arbeiten wir in der Restaurierung – und damit viel mit unseren Händen. In weißen Kitteln und Latexhandschuhen sitzen wir an einem Strahlgerät, um Metalllöffel oder Aluminiumbecher zu säubern. Wir müssen sie von Schmutz und Chemikalien befreien, um möglichst die Spuren der Geschichte, die sie geprägt und geformt haben, aufzudecken. Wenn man dann die Optik des Gegenstands vor der Bearbeitung mit der aktuellen vergleicht, hat man ein richtiges Erfolgsgefühl. 

Mitunter beschäftigen wir uns auch mit den Internierten des Speziallagers Nr. 2, lernen ihre ambivalenten Lebensgeschichten kennen, ihre Wege durch die Gefängnisse und Lager der sowjetischen Besatzungszone und die Situation ihrer Familien. Das ist wiederum sehr wissenschaftliche, theoretische Arbeit, mit der wir tief in dieses Kapitel der Geschichte einsteigen.

Wir haben eine Routine, aber gleichzeitig sind unsere Wochen abwechslungsreich und herausfordernd. Wir haben uns mehr Wissen zu einem Themenbereich innerhalb weniger Wochen erarbeitet als jemals zuvor. Und dabei sind noch nicht einmal drei Monate unseres Freiwilligenjahres um. Gelernt haben wir nicht nur historische Fakten, sondern auch, wie es ist, einen neuen Job zu beginnen, sich in einer Kollegschaft zu etablieren, seine Rolle zu finden. Wir haben den ersten Tag geschafft, die erste Woche und den ersten Monat. Am Telefon müssen wir uns jetzt meistens nicht mehr melden mit „Hier ist eine von den neuen Freiwilligen“. Die Kollegen kennen mittlerweile unsere Namen – und wir ihre. 
 
Franka  
 
 

Unser Arbeitsplatz im Freiwilligenbüro