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Der 9. November - ein deutscher Scherbenhaufen

Der 9. November– Schicksalstag der deutschen Geschichte. Am 09.11.1989 werden die Grenzen geöffnet und die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten eingeleitet. Die Diktatur der DDR ist zusammengebrochen. Dieses Datum ist in der breiten Bevölkerung positiv konnotiert und der Mauerfall wird damals wie heute als große Errungenschaft gefeiert. Warum wurde folglich nicht der 9. November zum Tag der deutschen Einheit bestimmt, sondern der 3. Oktober? Das Datum des Höhepunkts der Friedlichen Revolution wäre doch von viel größerer emotionaler Tragweite, um den deutschen Nationalfeiertag zu feiern – oder nicht? Auf den 9. November fällt noch ein anderes historisches Ereignis, das die Geschichte Deutschlands und das Leben vieler Menschen ebenfalls stark prägte, die Gesellschaft aber nicht einte, sondern spaltete. In „Deutsche“ und in „Juden“. 1938 – über fünfzig Jahre früher – begannen die Nationalsozialisten in der Nacht vom 09.11. mit den gewaltsamen Ausschreitungen gegen Juden in ganz Deutschland – Novemberpogrome genannt. Das Jubelereignis des Mauerfalls teilt sich also sein Datum mit der endgültigen Eskalation des antisemitischen Terrors zur Zeit des Nationalsozialismus. So entschied man sich dagegen, diesen Tag zu feiern.

 Was ist damals jedoch passiert? Was verbirgt sich hinter dem berüchtigten Begriff „Reichskristallnacht“? Welche Verbindung besteht zu Buchenwald? Und warum erinnern wir uns auch heute noch an diesen 9. November 1938 zurück?

Der Name Reichskristallnacht war lang verbreitet. Über seinen Ursprung sind sich Historiker bis heute nicht einig. In Deutschland hat man sich aber von ihm abgewandt; er suggeriere ein verharmlosendes Bild von ein paar zerbrochenen Fensterscheiben und Scherben auf der Straße. Die ganze Bandbreite an Gewaltakten gegen Juden und jüdisches Leben würde dieser Begriff nicht angemessen widerspiegeln. Deshalb spricht man heute von Novemberpogrom oder Pogromnacht. In ganz Deutschland kam es damals zu brutalen Ausschreitungen gegen Juden. Ihre Geschäfte und Häuser wurden von SS und SA gezielt überfallen, geplündert und verwüstet, ihre Gottes- und Gebetshäuser abgebrannt. Sie wurden von den Nationalsozialisten geschlagen, verhaftet und ermordet. Das Ziel war es, den Besitz der Juden zu zerstören, ihre Religion zu ächten, sie in ihrer Würde zu erniedrigen und aus Deutschland zu vertreiben. Jüdisches Leben, Geschäfte und Kultur in Deutschland sollten ausgelöscht werden.

Der 9. November war natürlich nicht der Anfang der antisemitischen Diskriminierung und Gewalt. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1933 wurden die Juden in Deutschland zunehmend aus Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft ausgegrenzt. Ihre Geschäfte wurden boykottiert, sie erhielten Berufsverbot. Die Propaganda schürte mit Klischees, Dämonisierungen und Rassismus den Judenhass in der Bevölkerung. Die Pogromnacht war also Kulmination der antijüdischen Politik des Nazi-Regimes. Gleichzeitig markierte sie ihren Wendepunkt. Der Antisemitismus war von Isolation und Diskriminierung in Gewalt und Vertreibung umgeschlagen. Die Novemberpogrome waren keine Geheimaktion, die man versuchte, vor der Bevölkerung zu verbergen, sondern fanden buchstäblich auf offener Straße statt – die Öffentlichkeit schaute zu oder beteiligte sich. Mit der Nacht vom 9. auf den 10. November war es jedoch nicht getan. Etwa 30.000 jüdische Männer brachte die deutsche Polizei in den folgenden Tagen in Konzentrationslager. Sachsenhausen, Dachau – und Buchenwald. Die Gestapo wies fast 10 000 Juden in das bereits überfüllte Konzentrationslager ein.

Aus Gründen der „Dringlichkeit“ werden rasch fünf einfache Behilfsbaracken aufgestellt. Westlich des Appellplatzes entsteht ein Stacheldrahtpferch – das „Sonderlager“ – abgegrenzt vom restlichen Lagerleben und den Häftlingen. Buchenwald vermag kaum 10.000 Neuankömmlinge zu stemmen, der Gedanke von Bestrafung und ideologiegesteuerter Rache scheint die Kapazitäten des KZ jedoch immens zu erweitern. Hier wird den Juden nun klar kommuniziert, dass die Zeit der Vergeltung noch kein Ende gefunden hat – vielmehr hat man den Startschuss verlauten lassen für das, was die Folgejahre noch kommen soll. Ab 1938 werden nämlich nun auch Juden fester Bestandteil der Häftlingsgesellschaft von Buchenwald. Im Sonderlager verschärft sich die Lage zunehmend, wird gar dramatisch. Die unmenschlichen Verhältnisse fordern schnell zahlreiche Menschenleben. Wasser wird knapp, die Hygiene leidet und so dauert es nicht lang, bis der Typhus um sich greift, bald das eigentliche Lager überwunden und umliegende Dörfer erreicht hat. Erst jetzt schreitet die SS ein – zur Sicherheit der schutzlosen „Deutschen“. Nach allem, was die Opfer der Pogromnacht durchleben mussten, folgen nun weitere schlaflose Nächte, wobei „die Nerven der Menschen auf eine Zerreißprobe gestellt [wurden], denen viele unter [ihnen] nicht gewachsen waren, und es kam, was kommen mußte, nein, was von den Bestien in Uniform planmäßig durch Entzug von Schlaf, durch Hunger und Durst und durch ständige Bedrohung herbeigeführt wurde, die Menschen wurden wahnsinnig und bekamen Tobsuchtsanfälle“. So drückt es der Überlebende Leopold Herz aus. Bereits wenige Monate später werden die Juden aus dieser Tortur jedoch entlassen – sofern sie persönliches Eigentum unter Wert veräußern und das Land auf schnellstem Wege verlassen würden. So wird das Sonderlager wieder aufgelöst – seine etwa hundert Tage andauernde Existenz sollten dem Scherbenhaufen vom 9. November noch 250 weitere Opfer hinzufügen.

Weggekehrt wurden diese Scherben jedoch nicht. Heute erinnert ein Gedenkstein aus dem Jahre 1954 an der Stelle des Sonderlagers dem Schicksal all jener, die ihr Leben, ihr Hab und Gut, ihre Familien und ihre Würde lassen mussten – einen Preis bezahlten, dem niemand gewachsen ist. Auf Deutsch, Russisch und seit 1988 auch auf Hebräisch wird derer gedacht, die, im Wortlaut der Aufschrift, „als Opfer des faschistischen Rassenwahns“ starben. Seit Langem findet nun jedes Jahr am 9. November eine Gedenkfeier anlässlich jener schicksalshaften Nacht statt, immer der interessierten Öffentlichkeit zugängig gemacht – an eben diesem Gedenkstein. Dabei ist es immer auch Aufgabe der Freiwilligen, das Programm zu leiten – kurze biografische Episoden führen den Zuhörer durch die Nacht und Folgezeit des Pogroms, wobei wir Freiwilligen den Opfern, den Häftlingen und teils Hinterbliebenen wieder eine Stimme geben. Zusammengestellt und kuratiert sind die Texte von Harry Stein, dem Kustos der Wissenschaftlichen Abteilung zur Geschichte des Konzentrationslagers in Buchenwald. Seit Jahren gestaltet er mit den Freiwilligen zusammen diesen Teil der Gedenkfeier.

Dieses Jahr ist aber einiges anders, die Corona-Pandemie macht uns allen wohl sehr zu schaffen. Doch umso lobenswerter ist es, dass die Veranstaltung darunter nicht leiden musste. Sicherheitsmaßnahmen bezüglich des Infektionsschutzes wurden getroffen, aus Präsenz- wurde Livestream-Veranstaltung, bei der zwar die Zuschauer nicht vor Ort sein, wir Redner aber dem Tag und dem Schicksal all der Opfer angemessen und in nächster Nähe westlich des Appellplatzes gedenken können.

Nach der einleitenden Rede des Stiftungsdirektors Jens-Christian Wagner und ein paar Worten des Oberbürgermeisters Peter Kleine, gestalteten wir, die Freiwilligen, die Gedenkfeier mit der szenischen Lesung. Danach sprach der Landesrabbiner der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen Alexander Nachama das Kaddisch. Ihr Ende nahm die Veranstaltung mit der Kranzablage. Die Mitarbeiter der Gedenkstätte und wir legten außerdem Rosen nieder, die den Menschen Respekt zollen, denen die Worte auf dem Gedenkstein gelten.

Es macht nachdenklich, es bewegt und berührt, wenn eine Mutter schweren Herzens einen Brief schreibt, um die Asche ihres Sohnes überstellt zu bekommen oder der Regen zum Geschenk im Sonderlager wird, da sonst kein Wasser den Weg dorthin findet. Wenn die Juden mit ihren religiösen Traditionen brechen müssen, um zu überleben oder bei Entlassung niederzuschreiben gezwungen sind, man hätte sie gut behandelt, um daraufhin schnellstmöglich als faktisch Staatenlose auf Aufnahme in einem anderen Land zu hoffen – dann sind das Dinge, die keine Ideologie und keine Ausflucht, kein Unwissen oder zeitliche Distanz entschuldigen können.

Wir haben mittlerweile Abstand zu den Ereignissen des 9. November, doch beschäftigen sie uns immer noch – und das ist gut so. Bestimmte Tage, bestimmte Taten gehören zur Seele eines Landes – positive, auf die man stolz sein kann, wie der Mauerfall, aber auch schreckliche Verbrechen wie das des Novemberpogroms. Besonders den schuldbesetzten, schambehafteten Ereignissen der Geschichte muss man gedenken – und über sie aufklären. Und das jedes Jahr aufs Neue. Antisemitismus ist keine moderne Erfindung des Nationalsozialismus, er begleitet das Judentum seit Anbeginn seiner Existenz. Und selbst heute hat es die Gesellschaft immer noch nicht gänzlich geschafft, jenen Hass und jene Feindlichkeit auszuräumen. Deshalb ist es wichtig, genau diesen geschichtsträchtigen Tagen Gehör zu geben. Zum einen natürlich, um die Bedeutung der Menschenrechte, die heute Grundlage unseres Landes sind, zu betonen und sich zu vergegenwärtigen, warum unsere Demokratie so schützenswert ist. Zum anderen, um den Menschen, die im Zuge der Novemberpogrome gelitten haben, zu gedenken, sich ihre Menschlichkeit vor Augen zu führen, ihre Lebensgeschichten, die durch den Nationalsozialismus auf so gewaltsame Weise geprägt wurden, zu erzählen. So können wir sicherstellen, dass wir die Fehler von damals nicht wiederholen, nicht erneut Existenzen zertrümmern – der Scherbenhaufen ist doch bereits viel zu groß, als dass ihn eine Gesellschaft stemmen könnte.

Sophia und Franka
 
 

Kranzschleife am Gedenkstein für das
jüdische Sonderlager 1938/39, 09.11.2020



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Gedenkstein für das jüdische Sonderlager 1938/39,1954 errichtet
Foto: Peter Hansen
 
 
Jüdische Männer, die im Zuge des Novemberpogroms verhaftet wurden,
auf dem Appellplatz von Buchenwald, 1938
Foto: United States Holocaust Memorial Museum, Washington 
 
 
Jüdische Männer, die im Zuge des Novemberpogroms verhaftet wurden,
auf dem Appellplatz von Buchenwald, 1938
Foto: United States Holocaust Memorial Museum, Washington (Ausschnitt)