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Sophia: Ein Jahr Buchenwald?


Ein Jahr Buchenwald. Ein Jahr Historie. Ein Jahr zahlreicher Erfahrungen, Ereignisse. Ein Jahr des Lernens. Und ein Jahr des Erkennens. Stéphane Hessel, ehemaliger Häftling im KZ Buchenwald, sagte einmal: „Es gibt kulturelle Unterschiede, aber keine zivilisatorischen. Wenn wir in Gesellschaften leben, dann bedeutet es, dass jedes Individuum dieselben fundamentalen Rechte hat. Sie bedeuten zugleich, dass man miteinander leben kann, dass man sich gegenseitig respektiert, dass man Verantwortung für den anderen hat – das ist Zivilisation.“ – Ein Zitat, das mir im Kopf geblieben ist, das ich angesichts seines Kontextes sehr bezeichnend für die Erfahrungen des Wortschöpfers finde.

Buchenwald war für mich lange ein Begriff, der schwer greifbar schien; etwas Unnahbares, das trotzdem präsent ist, etwas namentlich Unschuldiges, das dennoch Nachlass einer Zeit und einer Gesellschaft ist, die so viel Schuld trägt, wie es kaum eine andere vermag. Buchenwald ist aber vor allem ein Begriff der Last, des Urteils, eine Benennung aller schlechten Eigenschaften des Menschen, die sich unter dem Terminus des Nationalsozialismus ballen. Und Buchenwald ist die Bezeichnung eines Gedenkens, eines rückwirkend tiefen Schuldbewusstseins und des Erinnerns – ganz verschieden, so wie all die Menschen, deren Lebenslauf mit dem Namen dieses Ortes endet. Soviel kann ich zumindest sagen, nachdem ich mich nun dem Thema „KZ Buchenwald“ schon recht offen genähert habe. Als Schüler hat man vermutlich keinen Begriff, kann gar keinen Begriff davon haben, was eigentlich alles hinter dem fast chiffriert-synonymhaften Namen steht. Buchenwald. Natürlich weiß man irgendwann, dass sich ein Konzentrationslager den viel zu harmlos anmutenden Namen zu eigen macht. Aber ist es nicht eben dieses Harmlose, Normale, Unscheinbare – dieses Alltägliche –, was jenem Ort den nötigen Nachdruck, das Düstere und Perfide verleiht?


Da ich selbst gebürtig aus Weimar stamme, habe ich schon länger Bezug zur Gedenkstätte. Dies begründet sich natürlich in einem schulischen Besuch, aber auch in einer gewissen Präsenz Buchenwalds abseits des Ettersbergs. Ich kann nicht behaupten, dass man sich als Einwohner tagtäglich damit auseinandersetzt, die Verbundenheit ist dennoch zu spüren – heute entsprechend konträr zu damals: Nachdem die Weimarer Bevölkerung blindlinks zusah, wie man Leute aus der Stadt nach „oben“ verschleppte, bringt man einige dieser Gesichter nun zurück in die Stadt, für jeden sichtbar als Fotomontage entlang des Wegs vom Hauptbahnhof bis zum ehemaligen Gauforum inszeniert. Diese vielen alten, von den Jahren zerfurchten Gesichter, die uns doch immer ein stückweit daran erinnern, welche Bedeutung die Stadt der Dichter und Denker in anderen, weniger poetischen Zeiten hatte. Man erinnere sich an das Bild, auf dem das Dichterpaar verhüllt – „geschützt“ – eingemauert vor dem Mal der Republik steht, sich praktisch ebenso zurückzieht und schwindet, wie es auch sonstige frühere Ideale der Klassiker-Stadt getan haben – gezwungen durch die Hand des Antidemokratischen, Republikfeindlichen, Faschistischen, die sich genaugenommen schon während der Zwanziger Jahre über Weimar legte. Aber genug des Historischen.


Es wäre falsch zu sagen, dass Buchenwald die erste Adresse war, an die ich gedacht habe, als für mich der Entschluss feststand: Ich möchte ein Freiwilliges Soziales Jahr machen. Im Grunde genommen lag meine Intention anfangs eher darin, ein FSJ Kultur anzustreben, da ich in den Bereichen Kunst, Kultur und Musik sehr interessiert bin. Naheliegend waren folglich Einrichtungen der Klassik Stiftung Weimar, wirklich passend erschien mir im Endeffekt allerdings nichts. Irgendwann stieß ich dann zufällig auf Buchenwald. Schon lange bin ich sehr an europäischer, insbesondere deutscher Geschichte des 20. Jahrhunderts interessiert – welche Einrichtung könnte folglich passender sein, als diese Gedenkstätte? Ich war nie jemand, der Geschichte als trocken oder eintönig wahrgenommen hat. Für mich sollte es immer lebendig sein, gewissermaßen nahbar und schlichtweg begreiflich. Gerade junge Menschen haben doch oftmals gar keinen Bezug mehr zu zurückliegenden, einschneidenden Ereignissen. Eine Faszination, ein Wille, immer tiefer in die Materie einzudringen hat mich letztendlich wohl auch zu der Überzeugung gebracht, dass für mich kein Weg an diesem FSJ vorbeiführt.


Wie kommt nun aber eine Achtzehnjährige auf die Idee, ihr „gap year“ in einer solchen Einrichtung zu verbringen? Und warum tut sie das, obwohl sie doch genau weiß, dass es wahrscheinlich kein Geschichtsstudium wird? Warum nicht anders orientieren? Fragen, die andere stellen, Fragen, die aber ebenso in meinem Kopf umherwandelten. Die Antwort darauf ist simpel: Weil es mir wichtig ist, weil es mich interessiert, weil es mich bewegt. Ich habe noch keine genaue Vorstellung davon, was mich im kommenden Jahr erwartet – wer weiß, vielleicht ergibt sich eine Antwort auf diese Frage nach dem „Danach“ auch im Laufe dieses Blog-Projekts –, ich halte mir alle Möglichkeiten offen. Sicherlich könnte ich ein Jahr lang Geld verdienen oder reisen, jeden Tag meine Kunst ausüben, Musik machen… Ich suche aber einen Mehrwert hinter dem, was ich mache. Ich möchte mich nach diesem Jahr nicht fragen, was hätte sein können. Ich will über mich hinauswachsen, Neues sehen, ein anderes Leben kennenlernen abseits von Schule. Im kommenden Frühjahr werde ich hoffentlich meine ersten eigenen Rundgänge auf dem Gelände leiten. Selbstständiger, selbstverantwortlicher werden, neue Perspektiven und Möglichkeiten entdecken. Wer weiß, wie sich alles entwickelt, worauf ich stolz sein werde, was ich für mich gewonnen habe. Alles, was ich bis jetzt weiß, ist, dass dieses FSJ mich zu etwas bringen wird, egal in welche Richtung dies führt.


Wie ich in meinem persönlichen Umfeld feststellen musste, stößt dies nicht allzu sehr auf die vermeintlich gewünschte Reaktion. Verwunderung, verwirrte Überraschung, Unwissen darüber, wie man damit umgehen soll – vielleicht lässt sich so die Mehrheit dieser Antworten zusammenfassen. Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass dieses gesamte Thema um Buchenwald kein leichtes ist. Jeder Mensch verbindet anderes mit diesem Ort. Nur finde ich es ein wenig erschreckend, wie verschlossen manch einer dem gegenübersteht. Ich habe mich bewusst dafür entschieden, dieses Jahr hier zu verbringen. Und ich habe ebenfalls entschieden, mich tagtäglich inhaltlich mit dieser Zeit konfrontieren zu lassen, hier zu lernen, zu verstehen, mich zu bilden. Es ist in diesem Sinne keine rein wissenschaftliche Bildung, die ich hier erfahre, es ist zugleich eine menschliche. Es ist ein Lernen der anderen Art. Vielleicht ist es auch kein Lernen im eigentlichen Sinne. Geschichte bringt uns zur Auseinandersetzung mit Vergangenem, mit Fehlgeleitetem, Katastrophen, Verbrechen des einzig „vernunftbegabten“ Wesens. Wohl am ehesten aber mit der Suche nach Wegen, um Altes zu überkommen. Dagewesenes kann nicht rückgängig gemacht werden; so liegt es in unserer Verantwortung, zu bewerten, abzuwägen, zu reflektieren und so Geschehenes nicht zu Wiederholtem zu machen. Genauso wenig aber dürfen wir Vergangenes Vergessenes werden lassen.


Buchenwald behält alle Geschichten seiner Häftlinge, alle Zeugnisse von Folter und Qual, alle erdrückenden Bilder von Entmenschlichung und Vernichtung des Indivi­duums. Stumm. Darüber zu berichten, aufzuklären, zu appellieren – das können nur die einst Inhaftierten selbst. Und wer weiß wie lange noch. Es ist Aufgabe, die Erinnerung und das Gedenken, ebenso das Bewusstsein bezüglich all dieser schwarzen Einträge der deutschen Geschichte zu wahren. Es ist vor allem Aufgabe, trotz heutigen temporalen Abstands die Schicksale deren Opfer wachzuhalten. Der Kreis der Zeitzeugen wird kleiner, die Primärquellen unserer Gesellschaft verschwinden nach und nach. Daher ist es umso wichtiger, auf Sekundärquellen zu bauen – die jüngeren Generationen – und die müssen dieses Bewusstsein wachhalten. Auch ich in meinem FSJ trage dazu bei. Wir können nichts wiedergutmachen, wir können es nur besser machen. Es liegt an uns, für die Zukunft unsere heutigen demokratischen Ideale zu wahren – für unsere Gesellschaft und „Zivilisation“. Jeder Mensch ist gleich. Jeder Mensch hat Rechte. Und jeder Mensch hat Pflichten. Die Pflicht zur Verantwortung für andere, die Pflicht, diese unsere Demokratie zu schützen.


Mein persönlicher Beitrag lautet: Ein Jahr Buchenwald.


Sophia



Sophia vor dem ehemaligen Krematorium auf dem
Appellplatz von Buchenwald