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Franka - Ein Freiwilligenjahr an der Gedenkstätte Buchenwald 


Sobibor. Treblinka, Majdanek. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wann ich diese Worte das erste Mal gehört habe. Eine Geschichtsstunde in der 11. Klasse. Aus den leeren Gesichtern meiner Mitschüler las ich, dass sie ihnen ebenfalls kein Begriff waren. Das waren deutsche Vernichtungslager im besetzten Polen, erklärte unser Geschichtslehrer. Vernichtungslager? Auschwitz – das war das Wort, was wir damit verbanden. Ich saß auf meinem Stuhl, machte mir Notizen und war etwas verwundert, dass mir diese Namen nichts sagten. Die Lager, in denen die Nationalsozialisten den industriell organisierten Massenmord an den europäischen Juden begingen. Und wir wussten nicht einmal, wie diese Vernichtungslager hießen. Natürlich, Auschwitz war ein Begriff, Auschwitz ist das Schlagwort, das Symbol für den Holocaust. Und natürlich, in den letzten Jahren Geschichtsunterricht haben wir gelernt, was dort passiert ist, haben gelernt, wie die Nazis überhaupt an die Macht gekommen sind, haben Daten auswendig gelernt, 30. Januar 1933, und haben Filme geschaut über Deportationen und Konzentrationslager.


Ich persönlich war schon immer geschichtsinteressiert, habe das alles also gern gelernt und den Lehrern zugehört. Allgemeinwissen, das immer wieder bestätigt, aber nie erweitert wird, hat mir den Eindruck vermittelt, viel zu wissen. Aber als ich begann, mich mit diesen Begriffen – Sobibor, Treblinka –, mit denen ein ganzer Geschichtskurs der 11. Klasse nichts anfangen konnte, zu beschäftigen, merkte ich erst, wie wenig ich doch wusste. Ich hatte die Tür nur einen kleinen Spalt geöffnet und warf einen Blick in das Thema, hinter mir Schulunterricht und Allgemeinwissen, und es eröffneten sich Komplexitäten, Widersprüche, Verflechtungen und Vielschichtigkeiten. Mit mehr Wissen entsteht auch immer die Einsicht, wie wenig man eigentlich weiß.


Es ist logisch, dass zwei Mal 45 Minuten Geschichtsunterricht in der Woche keinen Geschichtsexperten hervorbringen und das muss ja auch gar nicht sein. Trotzdem hat mich frappiert: Nur allgemein waren meine Kenntnisse über diesen Abschnitt deutscher Geschichte, über die Zeit, die uns heute so viel beschäftigt, nach der die Welt eine andere war. Von Freunden aus anderen Schulen weiß ich, dass es bei ihnen ähnlich war. Behandelt wird das Thema ja, aber oft nicht auf eine Weise, dass zumindest ein Großteil der Schüler ein tieferes Verständnis dafür bekommt. Ich erkannte, dass ich das nicht so belassen möchte. Ich wollte lernen, nicht nur für Tests und Klausuren, nicht nur, um ein Pensum zu erfüllen und dann möglichst viele Geschichtsdaten aufsagen zu können, sondern für mich und längerfristiger, nachhaltiger. Ich entschied, mich auf einen Freiwilligendienst an einer Gedenkstätte für ein Konzentrationslager zu bewerben. Schnell kam ich auf die Gedenkstätte Buchenwald.


Buchenwald. Sicher neben Auschwitz der bekannteste Name. Ein bedeutungsschwerer, der sofort Assoziationen auslöst. Doch obwohl bestimmt mehr Leuten das Konzentrationslager Buchenwald etwas sagt als Majdanek und Sobibor – wissen sie auch mehr darüber als über Majdanek und Sobibor? Wusste ich das? Selbst nach einem Besuch mit der Schule in der Gedenkstätte kurz vor dem Abitur? Verstand ich, wie diese Lager zusammenhingen? Welche Unterschiede es gab, wie sie sich in die Geschichte des Nationalsozialismus, des 2. Weltkriegs, den Vernichtungsprozess des Holocaust einordnen? Ich wollte Antworten auf meine Fragen finden.


Die Gedenkstätte Buchenwald erschien mir dafür als der passende Ort. Das ausgeschriebene Arbeitsprofil für den Freiwilligendienst erfüllte genau meine Vorstellungen und Wünsche. Ich wusste, das wollte ich machen. Mich für ein Jahr wirklich in das Thema der nationalsozialistischen Verbrechen einzuarbeiten. Ein Konzentrationslager, diesen berüchtigten, bitteren Namen Buchenwald, kennenzulernen. Zu verstehen, was Gedenkstättenarbeit bedeutet, was Gedenkstätten für die Erinnerungskultur leisten. Zu lernen, wie man sein geschichtliches Wissen aufbereitet und anderen – auch meistens nur mit Allgemeinwissen ausgestattet – vermittelt. Das wollte ich machen. Dieses Jahr sollte für mich sein, für meine Interessen, meine Freude an Geschichte, am Lesen, am wissenschaftlichen Arbeiten, an Büchern, am Lernen und Beibringen. Mir war auch bewusst: Es würde noch mehr sein als das, als ein Museum zu besuchen und ein paar Texte zu lesen. Es würde bedeuten, sich jeden Tag mit einem schwer zu verarbeitenden, bedrückenden Thema zu konfrontieren. Mit allen Details über die Gewalt der Täter und das Leid der Opfer. Mit Besuchern, die unterschiedliche Meinungen zum Gedenken und Verhalten an diesem Ort haben. Mit aktuellen Fragen der Erinnerungskultur. Ich würde also natürlich intellektuell gefordert werden, aber auch menschlich, charakterlich. Ich würde nicht nur viel über das Thema lernen, sondern auch viel über mich selbst.


Tatsächlich hatte ich schon früher einmal darüber nachgedacht, nach meinem Abitur einen Freiwilligendienst an einer KZ-Gedenkstätte zu absolvieren – in der neunten Klasse nach einem Besuch in der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein. Eine FSJ-lerin führte uns über das Gelände und berichtete mir im Anschluss über ihre Arbeit dort. Unser Gespräch blieb mir lange im Gedächtnis und über die Jahre erhielt sich der Wunsch nach einem solchen Freiwilligenjahr. Der Besuch in der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt Pirna-Sonnenstein hat mir noch etwas anderes vor Augen geführt: Die Reaktionen auf diesen Ort und die Bereitschaft, darüber zu lernen, sind bei uns jungen Menschen sehr unterschiedlich. Manche waren bewegt, andere gelangweilt. Jungen haben sich gerauft, einer hat dem anderen laut über das Gelände zugerufen: „Sag mal, bist du behindert?“.


Was mir im Zuge dieser Erfahrung in Pirna-Sonnenstein und Jahre später in Buchenwald aufgefallen ist: Oftmals fehlt einfach das Wissen, um den Ereignissen angemessen zu gedenken. Viele meiner Mitschüler – mich eingeschlossen ­– hatten wohl nur eine abstrakte, grobe Vorstellung, von den Orten, und den dort verübten Verbrechen. Es war nur eines von vielen Themen im Geschichtsunterricht, das man auswendig lernen musste, etwas Abgeschlossenes, von uns Losgelöstes, historisch Entrücktes. Ich wollte genauer verstehen, wem und was wir gedenken – Gedenken braucht Wissen. Das ist der Ausspruch, den ich später während meiner Freiwilligentätigkeit kennenlernen sollte. Denn ohne Wissen, ohne Verständnis für Zusammenhänge, Entwicklungen, Menschen, wird Gedenken schnell zu einem floskelhaften Ritual. Vor allem an Gedenktagen hört man oft die Mahnung „Nie wieder!“. Das, was damals passiert ist, darf nie wieder passieren – dafür müssen wir sorgen. Und natürlich stimmt das. Doch um genau das zu gewährleisten, muss man sich im Klaren darüber sein, was damals eigentlich passiert ist und was nicht wieder passieren darf. Ich denke, nur dann wird dieser Ausspruch nicht sinnentleert.


Das war also mein Weg zu dem Freiwilligendienst. Nach einem Vorstellungsgespräch, das digital stattfand, und dem Anruf, dass ich angenommen war, ging ein neuer Lebensabschnitt für mich los. Jetzt lebe ich in Weimar, fahre jeden Tag mit dem Bus auf den Ettersberg. Weimar ist schön, eine kleine Stadt, einladend und romantisch. Meine Mitbewohnerin, ebenfalls Freiwillige, und ich fühlen uns wohl hier, wir gehen oft durch die Altstadt spazieren und nutzen das vielfältige Angebot an Kultur, das Weimar zu bieten hat. Den größten Teil unserer Zeit verbringen wir aber in Buchenwald. Damit erleben wir täglich den Widerspruch zwischen den humanistischen Idealen der Weimarer Klassik und den Abgründen menschlichen Handelns im Konzentrationslager, der damals schon herrschte und heute noch beschäftigt.


Ursprünglich komme ich aus Dresden - oft als eine der Kulturmetropolen Europas bezeichnet. Kulturmetropole, aber auch NS-Hochburg. Zwiespältig wie Weimar – und das bis heute. Letztendlich kann man diesem Thema nirgends entkommen und das ist auch gut so. Der Holocaust ist Teil von Deutschland und deshalb Teil von uns. Er gehört zu Deutschland, so wie auch Goethe und Schiller, Kant, Beethoven und Einstein zu Deutschland gehören. Die Begeisterung für die Errungenschaften dieser deutschen Größen einerseits, das Gedenken an die von Deutschen zu Opfern gemachten Menschen andererseits – beides gehört dazu. Wir können das nicht ändern, aber wir können entscheiden, wie wir heute damit umgehen. Ich habe mich dafür entschieden, ein Jahr an der Gedenkstätte Buchenwald zu arbeiten.


Franka  

 


Franka vor dem ehemaligen Krematorium auf dem
Appellplatz von Buchenwald